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Hör BÜCHER: Mehr oder weniger Liebe

Interessanter Fall, der hier vorliegt! Vor mir auf dem Tisch, in identischer Aufmachung, gleich zweimal „Mehr Liebe“ von Frank Schulz.

Interessanter Fall, der hier vorliegt! Vor mir auf dem Tisch, in identischer Aufmachung, gleich zweimal „Mehr Liebe“ von Frank Schulz. Einmal als Buch – im splendiden Berliner Galiani-Verlag 2010 erschienen (304 Seiten, 19,95 €); dann als Doppel-CD zum gleichen Preis, bei Hörbuch Hamburg, gelesen vom Autor sowie von Peter Jordan und Harry Rowohlt. Auf dem Titelbild, respektive dem Cover des Hörbuchs, beide Male das gleiche Motiv: Himmel, bisschen Meer, viel Sand, Strandkörbe und ein Turm der Deutschen Lebensrettungsgesellschaft – ein Hinweis auf das, worum es in diesen, wie es im Untertitel heißt, „heiklen Geschichten“ geht.

Was verliert oder gewinnt man, wenn man sich für eine der beiden Varianten entscheidet? Um es gleich vorweg zu sagen: Ganz sicher wäre es ein Verlust, falls man weder auf das eine noch auf das andere Angebot einginge.

Frank Schulz, Jahrgang 1957, hat diesen Erzählungen ein Motto von Marie von Ebner-Eschenbach vorangestellt: „Die meisten Menschen brauchen mehr Liebe, als sie verdienen.“ (Hier müssten jetzt drei Gedankenstriche stehen – – – darüber könnte man sehr lange nachdenken.) Diese Liebesbedürftigkeit oder, wie der Autor es nennt, „Notdurft der Liebe“ ist es, die Schulz zu seiner Feldforschung inspiriert hat.

Schon die erste Geschichte, „Seele mit Käse“, führt mitten hinein ins Zentrum des Schulz’schen Erzählens: Der geschiedene Herr Brinkmann holt seine Brötchen nicht länger von Jensen, sondern neuerdings aus der „BackBord“-Filiale. Der Grund ist „Fr. Lammers“. Die bedient dort. Dreieinhalb Seiten weiter oder sechseinhalb Hörbuchminuten später beschließt er, seine Brötchen doch wieder bei Jensen zu holen.

Was da auf kleinstem Raum geschieht, ist für Brinkmann die größtmögliche Katastrophe: Nun hatte er sich so lange darauf vorbereitet, mit einem witzigen Spruch die Aufmerksamkeit von „Fr. Lammers“ auf sich zu ziehen, da stiehlt ihm ein breitschultriger Gebäudereiniger so ganz nebenbei die Show. Der nämlich erbeutet das Lächeln, das eigentlich ihm, Brinkmann, zusteht. Bei der titelgebenden Seele mit Käse handelt es sich daher nur vordergründig um schwäbisches Backwerk, vor allem ist damit Brinkmanns Gemütszustand beschrieben.

In der Hörbuchauswahl liest Frank Schulz diese Geschichte. Wenn man sich in der Textfassung über die zahlreichen Kursivierungen gewundert hatte, beim Hören wird einem klar, dass Schulz dieses Mittel gezielt verwendet: Es ist eine Lesevorschrift. Hier gibt es eine Verbindung zu Arno Schmidt, mit dem Frank Schulz schon verglichen wurde.

Abgesehen davon, dass Schmidts Hochdruckprosa singulär und sowieso unvergleichlich ist, finden sich tatsächlich Gemeinsamkeiten. Mit ethnologischem Gespür erkundet Schulz Milieus und Sprachräume, sein Blick macht vor Idiomen und Dialekten nicht halt, ohne dass das je ins Folkloristische abgleiten würde. Und er hat Witz! Auf die Interviewfrage „Was würden Sie als Bürgermeister sofort ändern?“ antwortete er: „Meine Meinung.“

In seinen Texten gelingt es ihm, Stimmen und Stimmungen festzuhalten: Das reicht von Hamburg, wo er wohnt, bis nach Berlin – selbst wenn der Name „Konopka“ in der Prenzlauer-Berg-Erzählung „Der King Kong des Ping Pong“ Anrainern ein bisschen zu sehr in den Ohren scheppert, Harry Rowohlt meistert aber auch den Berliner Ton. Die beiden zusätzlichen Vorleser Rowohlt und Peter Jordan sind ein Tribut an die Polyphonie dieser Prosastücke. Im gewissen Sinne sind sie für uns Vor-Leser, sie machen die Probe aufs Exempel, ob diese Texte auch unabhängig vom Autor funktionieren.

Die Hörbuchfassung ist eine Auswahl. Ein paar mehr Erzählungen hätten es ruhig sein dürfen. „Trilogie der Gewalt III“ etwa durfte nicht fehlen – wirklich eine der ganz heiklen Geschichten. Die allerdings findet man nur im Buch.

Falls Sie also im Laden stehen und sich zwischen Buch und Hörbuch entscheiden müssen: Ich weiß auch nicht, was ich Ihnen raten soll. Am besten, Sie machen es wie ich: Ich habe sowohl die Print- als auch die Audioversion. Mehr Liebe, siehe Ebner-Eschenbach, kann man in jeder Form gebrauchen.

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