zum Hauptinhalt

Hör BÜCHER: Tante Gretchen und der Mauerfall

Eines Tages entdeckte der Journalist Thomas Ultsch unter ein paar verkramten Papieren seines Großvaters ein Foto: Opa in Matrosenkleidung, die Hand liegt locker am Steuerrad. Zwar gibt es eine handschriftliche Notiz auf dem Foto: „Zur Erinnerung an meine Durchreise Bremen 1928“.

Eines Tages entdeckte der Journalist Thomas Ultsch unter ein paar verkramten Papieren seines Großvaters ein Foto: Opa in Matrosenkleidung, die Hand liegt locker am Steuerrad. Zwar gibt es eine handschriftliche Notiz auf dem Foto: „Zur Erinnerung an meine Durchreise Bremen 1928“. Was für eine Reise das aber damals war, das weiß Thomas Ultsch bis heute nicht. Und auch der Vierzeiler unter dem Foto gibt kaum einen sachdienlichen Hinweis: „Wir kommen und wir gehen / Es kann nicht anders sein / Ob wir uns wiedersehen / Das weiß nur Gott allein.“

Fotoalben mit derartigen stummen Zeitzeugnissen in Schwarzweiß stehen überall in Schränken herum, wo sie unter einer Staubschicht würdig ergrauen. Ein Bild sagt mehr als tausend Worte – ja. Aber manchmal, siehe oben, schweigt es sich eben auch gründlich aus. Das brachte Thomas Ultsch auf die Idee, mitteilungsfreudige Zeitzeugen zu befragen, solange die Rede und Antwort stehen können und noch nicht für immer ins Fotoalbum umgezogen sind. Im Ergebnis entsteht ein ganz individuelles Hörbuch auf Bestellung.

Will man für Freunde oder Nachkommen seine Lebenserinnerungen festhalten, war es bisher üblich, dass man entweder selbst zu Stift und Laptop griff. Oder man griff auf eine der Agenturen zurück, die nach dem Motto „Sie haben viel erlebt – wir schreiben Ihre Geschichte auf“ das professionell für einen erledigen: Nach Sitzungen mit laufendem Aufnahmegerät wird das Bandmaterial dann verschriftet, und es entsteht ein autobiografisches Buch, das in einer Startauflage von etwa zehn bis zwölf Exemplaren erscheint.

Thomas Ultsch jedoch, der Rundfunkjournalist, arbeitet ausschließlich mit dem ungeschliffenen Material, das heißt: mit den Rohdiamanten des gesprochenen Wortes. Diese Tonbandaufnahmen müssen natürlich aufwendig von ihm nachbehandelt werden, damit ein Hörbuch entsteht. Der unbestreitbare Vorteil: Die Spontaneität des unbefangenen Erzählens bleibt eins zu eins erhalten. Es ist jedenfalls schlecht vorstellbar, dass sich jemand hinsetzt und so lebendig, als hätte er ein Gegenüber, sein Leben tatsächlich selbst aufschreibt. Er würde es strukturieren und sich auf tiefere Sinnsuche machen, um seiner Nachwelt ein respektables Vorleben zusammenzudichten.

Ganz anders hier! Dramaturgischer Leitfaden ist ein „Ach übrigens, da fällt mir ja ein“. In „Mir ist es noch nie so gut gegangen wie jetzt“ erzählt Ingeborg Thamm ihr persönliches Stück Berliner Geschichte. Das Klirren des Kaffeelöffels im ersten Stück signalisiert: Wir befinden uns beim Kaffeeklatsch. Natürlich passiert der Lebenslauf der 1926 geborenen Thamm alle bekannten Stationen: die Zwanzigerjahre, NS-Zeit, Teilung, Mauerbau, das Jahr 89.

Das Besondere sind die Einzelheiten. Dadurch wird das zu einer Geschichtslektion, die man nicht so schnell vergisst. Ob es die Frau eines Ortsgruppenleiters der NSDAP ist, die die Nachbarn vor ihrer eigenen Tochter warnt: Die „Sieglinde“ erzähle zu Hause alles weiter, was sie in der Nachbarschaft gehört hat, da müsse man lieber etwas aufpassen. Oder ob es die Szene ist, wie der Vater der Erzählerin nach dem Krieg auf einem russischen LKW in die Gefangenschaft abtransportiert wird und man ihm dabei die Brille wegnimmt. Große Geschichte wird heruntergebrochen auf das Maß einer einzelnen, unverwechselbaren Lebensgeschichte. „Dann kam die Wende, da war ick grad bei Tante Gretchen“, heißt es etwa zum November 1989.

Falls man also vor hat, seine Lebensgeschichte festzuhalten, ist man bei Ultsch an einer guten Adresse. Informationen finden sich auf der übersichtlichen Startseite von www.pleaseleaveamessage.de Übrigens, derart edel habe ich noch nie Hörbücher verpackt gesehen! Diese hellbraunen, samtweichen Kistchen aus Buche und Birkensperrholz in der Hand zu halten und sie dann aufzuklappen, ist eine Freude. Hinten sind sie mit Scharnieren versehen, vorne verschließt sie eine gut handhabbare Metallverriegelung. Angesichts meines plastikvermüllten Hörbuchregals voller Massenware plädiere ich dafür, so eine Verpackung zur verbindlichen EU-Norm werden zu lassen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false