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Hör BÜCHER: Zwei hinter die Löffel

Wenn von einem „wilden Kind“ die Rede ist, denkt man in neuzeitlicher Egozentrik wahrscheinlich vor allem an jene bedauernswerten Geschöpfe, die von ADS geplagt sind, dem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, und die mit ihrer von Spielkonsolen und TV-ferngesteuerten Hyperaktivität Eltern und Erzieherinnen plagen, welche dann ihrerseits ebenfalls äußerst bedauernswerte Geschöpfe sind. Dass sich hinter diesem Begriff auch ein kulturgeschichtliches Phänomen verbirgt, scheint fast in Vergessenheit geraten zu sein.

Wenn von einem „wilden Kind“ die Rede ist, denkt man in neuzeitlicher Egozentrik wahrscheinlich vor allem an jene bedauernswerten Geschöpfe, die von ADS geplagt sind, dem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, und die mit ihrer von Spielkonsolen und TV-ferngesteuerten Hyperaktivität Eltern und Erzieherinnen plagen, welche dann ihrerseits ebenfalls äußerst bedauernswerte Geschöpfe sind. Dass sich hinter diesem Begriff auch ein kulturgeschichtliches Phänomen verbirgt, scheint fast in Vergessenheit geraten zu sein.

In „Das wilde Kind“ (Der Hörverlag 2010) kümmert sich der amerikanische Schriftsteller T. C. Boyle nicht um unsere graue Gegenwart, er nimmt sich eines historischen Falles aus dem späten 18. und frühen 19. Jahrhundert an, der unter der Bezeichnung „Viktor von Aveyron, das Wolfskind“ Berühmtheit erlangt hat; es ist die französische Variante von unserem deutschen Kaspar Hauser.

Das Kind, um das es hier geht, zeigt ganz ähnliche Symptome wie so ein moderner ADS-Quälgeist: Es ist ständig in Bewegung, wiegt sich hockend vor und zurück und dreht im Zweifelsfall einem unschuldigen Stubenpapagei, der daraufhin ganz sprachlos ist, den Hals um. Es scheißt auf den Teppich, und es scheißt auch auf alle übrigen Errungenschaften der Kultur. Wo immer es diesem unheimlichen Wesen möglich ist, ergreift es die Flucht, es will nur eines: zurück in seinen Wald. Das kann man sehr gut verstehen.

Andere Autoren hätten die Konfrontation eines verwilderten Jungen mit der Zivilisation, die ganz wild darauf ist, ihn zu bändigen, sicher mit blühender Fantasie breitwandig in Öl ausgemalt. Bei T. C. Boyle ist es ein schlanker Bericht, der davon erzählt, wie verschiedene gutmeinende Personen, der Färber Vidal, der Kommissar Jean-Jaques Constans- Saint-Estève, der Arzt Itard, mehr oder weniger an diesem sonderbaren Naturkinde scheitern. Boris Aljinovic findet genau den richtigen Ton, er tritt eine Winzigkeit zurück, er malt nicht aus, er berichtet. Hier wird uns keine große Kunst vorgezaubert, hier wird uns eine durch und durch spannende Geschichte erzählt – und das ist natürlich die ganz große Kunst.

Neben allen Schauer- und Gruseleffekten, die solch ein Thema bereithält, geht es auch um eine zentrale philosophische Frage, die schon Rousseau mit seinem „edlen Wilden“ aufs Tapet brachte, über die bereits Locke und Leibniz brieflich stritten und die gerade heute wieder heftig diskutiert wird: Welche Eigenschaften sind angeboren? Was vermag Erziehung?

Neigt man der Ansicht zu, dass Erziehung doch etwas bewirken könne, wird man die Erscheinung des Auditorix, eines Löffelhundes mit riesigen Ohrmuscheln, begrüßen. Die Initiative Hören und die Landesanstalt für Medien Nordrhein Westfalen haben dieses Comic-Wesen ins Leben gerufen. In seinem Namen vergab im Oktober 2010 eine hochkarätig besetzte Jury, der unter dem Vorsitz von Wolfgang Schill namhafte Autoren und Medienwissenschaftler angehören, zum zweiten Mal dieses Gütesiegel für Hörbücher (www.hoeren-mit-qualitaet.de). Will man Kinder nicht nur temporär ruhigstellen, sondern sie mit erstklassiger Ware versorgen, sollte man sich im Hörbuchdschungel unbedingt dieses hellhörigen Spürhundes bedienen.

Dass Hörspieladaptationen von Michael Endes Jim-Knopf-Geschichten (Der Audio Verlag, 2010), die in diesem Jahr empfohlen wurden, nicht verkehrt sein können, hätte ich vielleicht auch noch ohne dieses Siegel gewusst. Andere Hörbücher wären mir aber ohne diese Auswahlliste mit Sicherheit entgangen. Zum Beispiel: „Mandela & Nelson“ von Hermann Schulz (Hörcompany Hamburg, 2010), das mir besonders gut gefallen hat. Axel Prahl liest diese kleine Erzählung so, als würde uns ein guter Kumpel eine Geschichte erzählen. Man erfährt hier, welche Rolle beim Fußball-Länderspiel Tansania gegen Deutschland Mandela, die elfjährige Zwillingsschwester von Nelson, dem Kapitän der afrikanischen Mannschaft, spielt – besonders zu Beginn der entscheidenden zweiten Halbzeit. Da möchte man doch glatt allen zappeligen ADSlern zurufen: Sitzt mal still, hört euch das aufmerksam an – und dann ab mit euch auf den Bolzplatz.

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