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Hörbuchkolumne: Liebesweh und tote Maikäfer

Wie man beim Hören die Bilder aus einer anderen Zeit mit anderen Augen sieht: Joseph Roths „Stationschef Fallmerayer“ und Michael Kumpfmüllers Franz-Kafka-Roman „Die Herrlichkeit des Lebens“.

F., ein österreichischer Bahnangestellter, erlebt in seinem Streckenabschnitt eine Eisenbahnkatastrophe, rettet eine Verletzte, bringt sie bei sich im Stationshäuschen unter, wo er mit Frau und Kindern wohnt; von der Fremden und vom Duft der weiten Welt, den sie in seinem bescheidenen Hause verströmt, ist er zunehmend verwirrt und betört (es stellt sich heraus, dass sie eine russische Gräfin ist); genesen, reist sie weiter in den Süden zu ihrem Mann, schickt ein paar Ansichtskarten; als F. auf einer ihren Vornamen liest („Anna…“) ist es um ihn geschehen; bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges meldet F. sich sofort freiwillig, richtet es so ein, dass er an die Ostfront kommt, lernt dort bei Kriegsgefangenen Russisch, gelangt schließlich auf jenes Gut in der Nähe von Kiew, wo die Gräfin wohnt; deren Mann, wie F. nun erfährt, ist im Krieg verschollen; ihre Liebe entflammt; beim Herannahnen der Roten fliehen sie nach Konstantinopel, von dort per Schiff nach Monte Carlo, wo Graf und Gräfin aus alter Zeit eine Villa besitzen; Geld ist genug vorhanden, die Gräfin wird von F. schwanger; eines Tages jedoch rollt der tot geglaubte Graf in einem Rollstuhl ein …

Unglaublich! Bei jedem anderen Autor wäre solch ein Stoff unweigerlich zu einer Art TV-Mehrteiler verkommen. Joseph Roth gelingt es, diese unerhörten Begebenheiten zu einer Novelle zu verdichten, die kaum länger als eine Stunde dauert. Wer das nicht glauben mag – bitte: Dieter Mann liest Joseph Roths „Stationschef Fallmerayer“ (Eulenspiegel, 2011).

Hat jemand als Angestellter der „Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt für das Königreich Böhmen“ von Berufs wegen täglich mit maschinell abgesägten Armen und Beinen zu tun, so kann es ihm nächtens, als Autor, unter der Hand durchaus passieren, dass ein Gregor Samsa sich in ein Ungeziefer verwandelt; Kafkas „Amtliche Schriften“ (erschienen im Akademie Verlag, Ostberlin, 1984) galten mir bislang als verlässlichstes Sekundärhandbuch zu Kafka. Inzwischen gibt es auch in der Hörbuchbranche sichere Gewährsleute. Wählt Christian Brückner etwas für seine vorzügliche Edition parlando aus, höre ich sehr genau hin, so auch bei Michael Kumpfmüllers Franz-Kafka-Roman „Die Herrlichkeit des Lebens“ (parlando, 2011).

Michael Kumpfmüller schildert das letzte Lebensjahr Kafkas. An der Ostsee lernt er im Sommer 1923 Dora Diamant kennen – Köchin in einem jüdischen Kinderheim und angehende Schauspielerin (Fotos von ihr kann man im Internet finden). Auf authentischer Basis zeichnet Kumpfmüller in feinen Strichen das gemeinsame Leben der beiden nach: zunächst die heiter melancholischen Tage an der See, dann wechselnde Wohnungen in Berlin auf dem Höhepunkt der Inflation, schließlich das Sanatorium. Gegen alle Vernunft hofft man bis zum Ende mit den beiden, obwohl man – kennt man Kafkas Biografie – es doch besser wissen müsste. Brückner liest diesmal sehr leise, fast zurückgenommen – und trifft damit genau jenen Ton, den Michael Kumpfmüller in diesem klugen, ungemein eindrucksvollen Roman anschlägt.

Joseph Roth und Michael Kumpfmüller erscheinen im Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch, der dieses Jahr sein sechzigjähriges Bestehen gefeiert hat. Ebenfalls als Hörbuch liegt aus dem aktuellen Verlagsprogramm Renate Feyls Roman „ Lichter setzen über grellem Grund“ (GoyaLit, 2011) vor, sehr sinnlich gelesen von Ulrike Hübschmann. Kein Künstlerroman – ein Künstlerinnenroman! Kenntnis- und äußerst farbenreich (sic!) porträtiert Renate Feyl die Porträtmalerin Elisabeth Vigée, die im Paris des 18. Jahrhunderts und später in ganz Europa Furore machte. Movens dieser Lebensgeschichte ist die Suche nach der echten color vitae.

Da ist es neben allem Zeitkolorit eben auch wichtig zu erfahren, dass zu den Bestandteilen einer guten, leuchtenden Farbe stinkende Fleischreste, Därme, Lumpen, alte Schuhe, tote Maikäfer und verfaulte Pilze gehören. Gerade beim Zuhören entfaltet diese höhere Alchemie des Farbenmischens besondere Leuchtkraft: Hat man dieses Hörbuch gehört, sieht man Bilder aus jener Zeit – voilà! – mit anderen Augen.

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