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Kultur: Holland Festival: Das Tier mit den vier Rücken

Fußball muss eine Kunst sein: Amsterdam ist zugeklebt mit Holland-Festival-Plakaten, die Künstler in Oranje-Trikot und Jubelpose zeigen, den seligen Frank Zappa zum Beispiel. Selbst wenn man sich vorgenommen hat, einen Moment mal nicht an die Europameisterschaft zu denken, es ist unmöglich.

Fußball muss eine Kunst sein: Amsterdam ist zugeklebt mit Holland-Festival-Plakaten, die Künstler in Oranje-Trikot und Jubelpose zeigen, den seligen Frank Zappa zum Beispiel. Selbst wenn man sich vorgenommen hat, einen Moment mal nicht an die Europameisterschaft zu denken, es ist unmöglich. Schon in Schiphol fängt der Zauber an. Auf den Flughafentoiletten stehen in den Urinierbecken winzig kleine Tore, mit einem winzig kleinen Ball, auf dass die Männer zielen lernen ...

"Theater muss extreme Standpunkte einnehmen. Man muss die Bedeutung des Theaters aufs Neue erzwingen", fordert der flämische Regisseur Luk Perceval. Er legt beim Holland-Festival 2000 eine Uraufführung vor, "Aars!". Hier tobt der reine Krieg, Vernichtungskrieg. Luk Perceval begeht, soweit das überhaupt noch möglich ist in dieser enttabuisierten Zeit, ein wildes Sakrileg. Er wirft die "Orestie" des Aischylos in die Gosse. Er verwandelt das Nachspiel des Trojanischen Feldzugs in eine schier unerträgliche familiäre Orgie von Irrsinn, Inzest und Geschlechtsgier. "Aars!" bedeutet Anus, Arschloch. Rot wie ein Kussmund, fein liniert wie ein Fingerabdruck, so ziert die Körperöffnung das Textbuch. Perceval und sein Ko-Autor Peter Verhelst nennen es eine "Anatomische Studie der Orestie". Eine Vivisektion. Eine extreme Perspektive, in der Tat! Und wieder mit Ausrufezeichen.

Konnte man denn etwas anderes erwarten? Der Name Luk Perceval hat einen fulminanten Klang im europäischen Theater. Percevals Shakespeare-Marathon "Schlachten!", diese gewaltige gemeinschaftliche Anstrengung der Salzburger Festspiele und des Deutschen Schauspielhauses Hamburg, war das Ereignis der zurückliegenden Saison, ein großes Verdienst des scheidenden Hamburger Intendanten Frank Baumbauer. Unvergesslich, wie Luk Perceval und Tom Lanoye das Monstrum der so genannten Königsdramen an der rituellen Wurzel packten. Geschichte, Familiengeschichte, Theatergeschichte aufgefächert in erschütternden Tableaus, die Mechanik der menschlichen Grausamkeit und Hybris Schicht für Schicht freigelegt, bis sich am Ende, bei "Dirty Rich Modderfokker der Dritte", Tarantinos "Pulp Fiction" und Beckett begegnen.

Und da macht er jetzt mit den Griechen weiter, wo er mit Shakespeare aufgehört hat. Vulgo von den Rosenkriegen zur Anus Rosette, von den tödlich verfeindeten, heillos verschachtelten Dynastien der Lancaster und York an den vergifteten Herd der Atriden. "Aber es gibt nichts, was unseren Hunger stillt. Außer, wir essen den Hunger selber auf", dröhnt ein verfetteter Agamemnon. Das ist das beherrschende Bild dieser Familie Arsch: eine Schlange, die sich selbst verschlingt und verdaut. Man denkt an Shakespeare, der für ein Liebespaar einmal die hübsche Analogie des "Tieres mit den zwei Rücken" fand. Percevals mykenische Menagerie ist aber ein Tier mit vier Rücken; Vater Agamemnon, Mutter Klytämnestra, Elektra und Orestes. Wie sagt der Sohn gleich zu Beginn: "Ich habe eine Schwester. Wir haben kein Haustier. Wir sind unsere eigenen Haustiere."

Luk Perceval betont: Das ist eine belgische Wohnstube, eine belgische Familie. Man denkt an die entsetzlich widerwärtigen Skandale in dem kleinen europäischen Land. Von nichts kommt nichts. Belgien gleichsam als vergiftete Speerspitze einer allgemeinen Entwicklung. Eine grimmige Variante von Nationalstolz: Perceval sprich vom "Konkurs der Demokratie" und vom Zusammenbruch "ihrer kleinsten Einheit, der Familie".

Amsterdam, Westergasfabriek. Ein weitläufiges Gelände außerhalb des Zentrums. Brachland, Baustelle, alte Backsteingebäude. Früher diente es der Energiegewinnung, heute kulturellen Zwecken. Das TTA, das Theater im alten Transformatorhuis, lässt an die Arena in Berlin-Treptow denken, wo Percevals "Schlachten!" Triumphe feierte - und das Theatertreffen vor dem Sturz in die Bedeutungslosigkeit bewahrte. Zwölf Stunden Shakespeare - und nun keine sechs, keine vier, nein, zwei knappe Stunden "Aars!" So kurz, so schmerzhaft! Immer wieder sind bei der Premiere Zuschauer geflüchtet. Kann man wirklich, wie Perceval sagt, ein neues Theater erzwingen?

Katrin Brack, die Bühnenbildnerin der "Schlachten!", hat für "Aars!" eine kreisrunde Spielfläche entworfen. Ein flaches Bassin von vielleicht zehn oder zwölf Metern Durchmesser, knöchelhoch gefüllt mit Wasser. Darüber hängt, zu Beginn noch niedrig, ein Scheinwerferkranz, eine Lichterkrone, die sich im Wasser spiegelt. DJ Eavesdropper steht im Hintergrund: Er schafft einen magischen Klangraum. Der DJ übernimmt die Rolle des klassischen Chores: das Befragen, das Klagen, das seherische Vorantreiben des Dramas. Die Schauspieler kommen. Der Scheinwerferring schwebt in die Höhe, ein Anblick von majestätischer Ruhe und Schönheit. Die Vier im Familienbad. Die Idealfamilie, wie man sagt. Sie sitzen am Tisch, in Freizeitkleidung. Sie sprechen wie in Trance. Sie tanzen im Wasser. Balgen sich, schleudern Stühle herum. Harte Beats setzen ein. Ein elektronisches Gewitter. Sie schlagen "die Wohnung" kurz und klein. Sie wohnen im Wasser: eine alte Form niederländischer, flämischer Existenz. Das Wasser hat auch eine Schutzfunktion. Es dämpft.

Agamemnon und seine Bande verhalten sich unzweideutig. Das Tanzen, Raufen, Schubsen, Herumtollen verfängt sich immer wieder in kopulationsartigen Bewegungen. Alle Vier lutschen an den Tischbeinen, übergeben sich. Der Alte scheint die finstere Familienfeier mit schmierigen Zärtlichkeiten anzutreiben. Klytämnestra hat immerzu die Beine gespreizt. Die Geschwister knutschen, wenn sie den Umarmungen der Eltern entgehen. Im stroboskopischen Feuer schlingt sich Agamemnon um Elektra. Mutter und Sohn verdrehen ihre Köprer ineinander. Wie wilde Tiere in der Manege, ohne Dompteur. Doch welches Tier verhielte sich so viehisch wie diese Menschen? Und was sind diese Perversionen, gemessen an den Gräueln der Antike, wo der Urvater Atreus seinem Widersacher die Kinder schlachtet und zum Abendessen vorsetzt? In Percevals rücksichtslosen, aber auch hilflos wirkenden theatralischen Verdrehungen wird ein archaischer Horror heraufgerufen.

Ja: "Aars!" ist widerlich. Und es ist nicht ohne Sinnlichkeit - die Poesie des glucksenden, spritzenden, die Bewegungen spiegelnden, schwarzblauen Wassers. Die Schauspieler vollbringen eine beeindruckend athletische Leistung. Die Mikroports überbringen jeden Atemzug. Man hat die Empfindung, im Kopf dieser kaputten Kämpfer zu sitzen, während sie ihr Techno-Ballett vollführen. Es ist das Intime, Verdrängte, Unaussprechliche, was aus ihnen spricht. Der Text weist Parallelen zu Heiner Müllers "Hamletmaschine" auf. Es ist das Ende des erzählbaren Dramas, die Helden stehen ohne Orientierung in einer Landschaft von Müll und Ruinen, zurückgeworfen auf ihre Körperlichkeit, psychotisch. Immer wieder unternehmen sie peinvolle Versuche, zueinanderzukommen, zu zweit, zu viert. Da zuckt und ruckt und würgt sie, die Familienschlange. Wie Laokoon und seine Söhne ...

Man könnte dieses Ausstellen von Fleischeswut auch "Körper" nennen, so wie Sasha Waltz, die am Wochenende beim Holland Festival gastierte, ihr jüngstes Tanztheater betitelte. Da gibt es bei "Aars!" durchaus Berührungen zur neuen Schaubühne. Doch Luk Percevals Brutalität und Konsequenz suchen ihresgleichen. Diese Brüche, dieser atmosphärische Umschwung, diese finstere Kraft! "Papa ist tot", singen Bruder und Schwester in zartester Harmonie. Die Lichtkrone senkt sich wieder herab. Die Kinder werfen sich in einen allerletzen, bacchanalischen Akt. Und dann ist auch Orest eine Wasserleiche. Todesursache wie bei den Eltern: vermutlich Erschöpfung, Verausgabung, nach all der Raserei. Übrig bleibt das Mädchen, hüpfend, tanzend über das nasse Grab. Trauer muss Elektra tragen.

Im Oktober soll "Aars!" in Hannover gastieren. Wilfried Schulz, der neue Hannoveraner Intendant, der vom Hamburger Schauspielhaus kommt, hat überdies Luk Perceval zu einer Tschechow-Inszenierung eingeladen. Auch Frank Baumbauer, der in einem Jahr die Münchner Kammerspiele übernimmt, bemüht sich um den Leiter des Antwerpener Toneelhuis: Mit Luk Perceval ist Flandern jetzt bereits Europameister.

Rüdiger Schaper

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