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Kultur: Holocaust: Die schmutzigen Hände der Wehrmacht

Es ist die Gleichgültigkeit, die ihm bis heute unbegreiflich scheint. "Das Rätsel ist nicht, dass sich nicht Hunderte gemeldet haben, um gegen die Judenvernichtung aufzubegehren", sagt Saul Friedländer, "sondern dass sich fast niemand gemeldet hat.

Es ist die Gleichgültigkeit, die ihm bis heute unbegreiflich scheint. "Das Rätsel ist nicht, dass sich nicht Hunderte gemeldet haben, um gegen die Judenvernichtung aufzubegehren", sagt Saul Friedländer, "sondern dass sich fast niemand gemeldet hat." Warum die alten Eliten der Weimarer Republik, zu der auch protestantische oder katholische Geistliche gehörten, fast nichts getan haben, um die schon früh bekannten Massaker an der jüdischen Bevölkerung Osteuropas zu stoppen - das lässt Friedländer heute immer noch unablässig weiterfragen.

Der in Tel Aviv und Los Angeles lehrende Historiker war gestern ins Berliner Liebermann-Haus gekommen, um dort, wo der deutsch-jüdische Maler 1933 die Machtergreifung der Nazis miterleben musste, eine Diskussionsreihe zu eröffnen. "Torgespräche" sollen hier in Zukunft zu aktuellen kulturellen Themen geführt werden. Veranstalter ist neben der "Stiftung Brandenburger Tor" von der Bankgesellschaft Berlin auch das Wissenschaftskolleg. Saul Friedländers Vortrag sorgte dabei für einen Auftakt, der tief ins Herz der deutschen Debatte zielt: "Die Wehrmacht, die deutsche Gesellschaft und das Wissen um die Massenvernichtung der Juden", so der Titel.

Ein Reizthema, nicht erst seit der Wehrmachtausstellung. Ganz akribischer Detailforscher demonstriert Friedländer die Beteiligung deutscher Soldaten an Massakern gegen die jüdische Bevölkerung an einem Beispiel: Sechs Wochen nach dem Angriff auf die UdSSR befahl der Wehrmachtskommandeur für die Region Kiew in der kleinen Stadt Bjelaja Zerkow, alle 800 bis 900 ansässigen Juden registrieren, und überließ es einem SS-Sonderkommando, sie zu ermorden. Verschont wurde nur eine Gruppe von Kleinkindern - die in einer Baracke halb verdurstet von zwei Feldgeistlichen gefunden wurden. Darauf kam es zu einem Streit zwischen Wehrmachtsoffizieren, ob man die Kinder, wie von der SS gefordert, umbringen solle. Eine Anordnung des Feldmarschalls von Reichenau machte dem ein Ende: Die Kinder wurden von einem Wehrmachtskommando erschossen.

"Was das kriminelle Verhalten anbelangt", resümiert Friedländer, "lag die Grenze nicht zwischen der SS und der Armee, sondern innerhalb der Armee selbst." Die Wehrmacht war an vielen Massakern entweder selbst oder logistisch beteiligt. Und viele Soldaten schauten bei Massakern der SS zu. So dass es schon 1941/42 relativ viele Informationen auch in der Heimat über die Mordaktionen an der Front gegeben hat.

Ob man über Auschwitz informiert gewesen sei, das sei nicht so entscheidend, meint der heute 68-jährige Friedländer. Denn dass Juden systematisch getötet wurden, sei durch die Berichte von Soldaten ganz evident gewesen. Hieraus schließt Friedländer auch auf verbreitete Akzeptanz in der Bevölkerung: Man habe aus "instiktiver Solidarität" die Ansichten der zur Familie gehörenden Frontsoldaten übernommen und aus Selbstschutz nichts genaueres wissen wollen.

Für die Gleichgültigkeit hat Friedländer nur eine Erklärung: Anders als bei der Euthanasie, von der auch Familienmitglieder betroffen waren, zählten Juden, selbst deutsche Juden, nicht zur "Volksgemeinschaft". Die Propaganda hatte ganze Arbeit geleistet: Der Jude, das war der andere.

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