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Stelen in Konzert

© dpa

Holocaust-Mahnmal: Sound der Stelen

Eine Komposition von Harald Weiss wird heute im Holocaust-Mahnmal uraufgeführt. Ein Probenbesuch.

Sonne blitzt auf dem Beton von Peter Eisenmans Holocaust-Denkmal, die ersten warmen Winde des Jahres fegen durch die Stelen. An Besuchern mangelt es nicht, wie immer lümmeln Schüler auf den Quadern, ruhen sich aus und warten auf Einlass in den unterirdischen „Ort der Information“. Man kann ihre lässige Haltung geschmacklos gegenüber den Opfern finden, oder aber froh sein, dass das Denkmal angenommen wird, dass drei Jahre nach der Eröffnung nicht ein im Gedenken erstarrtes Betonfeld daraus geworden ist, sondern ein lebendiger Teil der Stadt.

Am Freitag begeht der Förderverein das Jubiläum. Dann dürfte sich jeder Besucher der Bedeutung des Ortes bewusst werden. Denn erstmals wird Musik im Denkmal erklingen. Die eigens für diesen Anlass geschriebene Komposition „Vor dem Verstummen“ von Harald Weiss will musikalisch der Menschen gedenken, die der Nationalsozialismus zum Schweigen gebracht hat.

Zielstrebig geht Daniel-Jan Girl auf das Zentrum des Stelenfeldes zu. An der tiefsten Stelle bleibt er stehen. Hier wird der Dirigent Lothar Zagrosek während des Konzerts den Musikern der Berliner Kammersymphonie die Einsätze geben. „Viele Besucher werden nicht sehen können, wo die Musik herkommt“, erklärt Girl, „nämlich direkt aus dem Denkmal heraus. Das allein erzeugt schon einen Verfremdungseffekt, ein Gefühl der Beklommenheit.“

Die historische Verantwortung spüren lassen

Girl gehört dem Vorstand des Fördervereins an, von ihm stammt die Idee zum Konzert. Denn obwohl inzwischen sieben Millionen Besucher hier waren, überlegt der Förderverein ständig, wie man das öffentliche Bewusstsein weiter wach halten kann. Das Denkmal sei nicht fertig, so Girl – der unterirdische Ort der Namen zum Beispiel enthalte erst 8000 Kurzbiografien von Opfern. Sie werden vom Band vorgelesen und so für einige Augenblicke der Anonymität entrissen. Insgesamt aber sind die Namen von 3,2 Millionen jüdischen Opfern bekannt. Da ist noch eine Menge zu tun.

Als jüngstes Mitglied des zehnköpfigen Vorstands fühlt sich Girl, Jahrgang 1980, besonders zuständig dafür, dass die junge Generation nicht vergisst, wozu Menschen im Holocaust fähig waren. „Es geht nicht darum, dass die Nachgeborenen in Deutschland schuldig wären. Aber sie haben eine besondere Verantwortung, die sie spüren müssen.“ Girl wirkt selbstbewusst, aber seine Aufregung kann er nicht verbergen. Es ist das erste Mal, dass eine von ihm entwickelte Veranstaltung dieser Größenordnung im Denkmal stattfindet. Seine größte Sorge ist, dass es regnen könnte. „Bei leichtem Regen haben wir kleine Plastikdächer für die Musiker. Aber selbst das beeinflusst natürlich den Klang.“

Der wird auf jeden Fall anders sein als im Konzertsaal. Aber Harald Weiss, der Komponist, kennt sich aus mit Musikaufführungen an ungewöhnlichen Orten. Der ausgebildete Schlagzeuger, Dirigent und Performancekünstler hat schon Kompositionen für die Bielefelder Fußgängerzone, den Saarbrücker Hauptbahnhof und sogar den Teutoburger Wald geschrieben. Elektrische Verstärker lehnt er ab. „Jedes Instrument hat seine eigene Dynamik“, so Weiss, „und dazu gehört auch, dass man es ab einer bestimmten Entfernung nicht mehr hören kann. Das muss man akzeptieren. Die Musiker werden nicht volle Lautstärke spielen, nur damit man sie überall hören kann.“ Aber natürlich müssten sie ein Piano unter freiem Himmel anders bedienen als im Konzertsaal.

Die Besucher können sich frei bewegen

Im Stelenfeld positioniert Weiss 24 Musiker konzentrisch um Lothar Zagrosek, mit vier Celli als einzigen Streichern im innersten Kreis, dann die Holz- und schließlich die Blechbläser, wie beim klassischen Konzert. Allerdings werden nur die Musiker, die in den vier Sichtachsen stehen, den Dirigenten sehen können. Die anderen haben kleine Monitore vor sich. Die Besucher können sich frei im Denkmal bewegen und je nach Standort andere Klänge wahrnehmen – so wie auch die jüdischen Opfer in ihrer Wahrnehmung der mörderischen Ereignisse nie den großen Blick aufs Ganze hatten.

Zu Beginn liefern die Celli ein „Grundgrummeln“, das sich zum Klanggewebe ausbreitet. Die Posaunen markieren Hilfeschreie und Einsamkeit. Nach einem Dur-Höhepunkt fällt die Melodie ab und versickert wie ein einsamer Herzton im nicht hörbaren Bereich. Die Musik beginnt und endet in der Stille, aber eigentlich hat sie keinen Anfang und kein Ende.

Das ist zumindest Weiss’ Intention: „Ich stelle mir vor, dass die Komposition bereits begonnen hat, bevor wir sie physikalisch wahrnehmen können.“ Und auch danach soll sie weiterleben – in den Steinen und in der Erinnerung der Hörer. So ist „Vor dem Verstummen“ auch eine Komposition gegen das Verstummen, wie es zum Beispiel die Dichterin Selma Meerbaum-Eisinger erfasste. Sie starb 1942 in einem SS-Arbeitslager. 1939, als 14-Jährige, schrieb sie das Gedicht „Welke Blätter“, das voller Ahnung ist von dem, was dem jüdischen Volk bevorstehen würde. Die Mezzosopranistin Tanja Šimik Queiroz wird während des Konzerts einen Kreis im Stelenfeld abschreiten und das Gedicht singen. Und nach der Musik rezitiert die Schauspielerin Tatjana Blacher weitere Gedichte Meerbaum-Eisingers, bevor die Aufführung um 20.35 Uhr, pünktlich zum Sonnenuntergang, wiederholt wird.

„Vor dem Verstummen“, Aufführungen heute um 19.30 Uhr und 20.35 Uhr im „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“, Cora-Berliner-Straße 1.

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