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Kultur: Holz und Hammer

Die Wiener und die Berliner Philharmoniker spielen unter Simon Rattle Mahlers Sechste

Es gibt Konzerte, an denen ist man höchstwahrscheinlich selber schuld. Es gibt Konzerte, da sitzt man einen ganzen Abend lang wie hinter einer panzerdicken Glaswand – und nichts passiert, nichts erreicht einen, nichts rührt sich, Herz und Kopf und Bauch und Hände bleiben unbelehrbar, bockig und stumm. Der erste gemeinsame Auftritt der Wiener und der Berliner Philharmoniker, ein historisches Ereignis, wenn man so will, ein social event der Extraklasse, war ein solcher Abend. Leider.

Und das heißt nicht, dass auf dem Podium nichts passiert wäre, ganz im Gegenteil. Das unablässige Blitzen und Dampfen, das Wühlen und Wogen der das Holzrund der Berliner Philharmonie schier sprengenden Musikermasse, all die Trommelwirbel und krachenden Paukenschläge, die grellgezackten Fanfarenstöße des Blechs, das heisere Marschieren der tiefen Streicher, das hämische Kuhglockengeläut, der aus dem sprichwörtlichen Jenseits herübergrüßende Kirchensingsang – all dies machte die Sache nur noch schlimmer.

Denn immerhin handelte es sich bei dem Hauptwerk des Abends um Gustav Mahlers sechste Symphonie, die so genannte Tragische, eine orgiastisch- schroffe Musik von abgründiger Modernität. Auf Alma Mahler geht das Wort zurück, der Komponist habe mit dieser Sechsten sein Leben „anticipando musiziert“. Die drei spektakulären Holzhammerhiebe, die im Finalsatz den Untergang des programmatischen Helden besiegeln, sie stehen somit ahnungsvoll-prophetisch für die drei Schicksalsschläge, die Mahler ein Jahr nach der Uraufführung der Sechsten (1906 in Essen) am eigenen Leib erfahren sollte: den Tod seiner älteren Tochter, seinen Rücktritt als Direktor der Wiener Hofoper und die Diagnose eines unheilbaren Herzleidens. Solches wissend oder auch nicht, verlässt man den Konzertsaal nach diesem Allegro moderato normalerweise nur mehr auf allen Vieren.

Einerseits könnte man das Ganze nun ja auch ein wenig lockerer sehen und sich sagen, was soll’s, ist eine hübsche PR–Idee gewesen und vielleicht tatsächlich längst überfällig, dass die beiden prächtigsten Luxusliner unter den Orchestern der Alten Welt, die sich markttechnisch spinnefeind sein müssten (und es ja auch sind), endlich einmal zusammenkommen – das künstlerische Ergebnis, wen interessiert’s? Andererseits war von vorneherein klar, dass ein solches Kombi-Konzert notgedrungen schlechter ausfallen würde, als zwei ordnungsgemäß getrennte Auftritte mit dem selben Programm. Erstens haben derart traditionsbeladene und hochgetrimmte Ensembles nun einmal ihr Geheimnis, und zweitens wird in Wien – was ja den Reiz der europäischen Musiklandschaft ausmacht, ihren Reichtum! – nach wie vor anders phrasiert, anders vibriert, anders geatmet, anders reagiert und anders gelebt als in Berlin. Das war dann auch schon in Ralph Vaughan Williams’ süßlich-beflissener Streicher-„Fantasia on a Theme by Thomas Tallis“ deutlich zu bemerken, die den Abend eröffnete – und der ansonsten die übergroße Besetzung wie Blei im Gefieder hing.

Darüber dass es im ersten Satz der Mahler-Symphonie etliche Wackler und Ruckler gab, muss man hier keine Worte machen, ebenso wenig über die missliche Klangbalance und darüber, dass ein derart riesenhafter Streicherapparat das solistische Holz förmlich zermalmen und unter sich begraben musste. Beides liegt in der Natur der Sache und wäre zugunsten einer seelisch erfüllten, geistig befeuerten Interpretation jederzeit gern in Kauf genommen worden. Genau das aber fand nicht statt. Je entschlossener Simon Rattle seinen mächtigen Unterkiefer vorstreckte, je emsiger er die Musiker antrieb, je unerbittlicher er den Tambourmajor mimte – desto weniger Mahler ereignete sich. Der Kopfsatz: ein lärmig verhetzter Hexentanz. Das Andante: atmete nie wirklich aus. Das Scherzo: eine Zirkusnummer irgendwo zwischen Orffschem Schulwerk und der „Salome“ von Richard Strauss. Das Finale: grob, roh, pastos und vor allem maßlos laut. Von Spannung und Schmerz, von einem halbwegs differenzierten Steigerungswillen etwa im Innehalten zwischen den drei Hammerschlägen keine Spur. Selten zuvor hat einen das „furchtbar Autobiografische“ dieser Symphonie dermaßen kalt gelassen, ja gelangweilt. Selber schuld? Trotzdem viel Jubel.

Christine Lemke-Matwey

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