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Kunst und Künstler. Horst Hussel in seiner Pankower Wohnung.

© David Heerde

Horst Hussel wird 80: Der Porträtist des Nichts

Mit seinen Buchillustrationen wurde er berühmt, Horst Hussel, der „Bilderpoet“. Von Anfang an malte er wie niemand sonst. Fortgeschrittene gegenständliche Ungegenständlichkeit, so könnte man seine Kunst nennen. Der wohl erste und letzte Dadaist der DDR wird 80.

Überall bin ich rausgeflogen, sagt er. Sein Leben lang geht das nun schon so, das sind am Montag genau achtzig Jahre, aber er kann es sich noch immer nicht erklären. Eben wäre er beinahe aus dem Krankenhaus geflogen. Dabei haben die Ärzte von „Maria Heimsuchung“ gar nicht gleich gemerkt, dass ihr Patient öfter fehlte in seinem Bett. Dann aß er in einem guten Restaurant gegenüber, oder er ging ein wenig nach Hause. Ich war doch nicht krank, nur das Herz wollte nicht mehr, erklärt Horst Hussel, einer der wunderbarsten Zeichner und Grafiker dieses Landes, in vollendeter Horst-Hussel-Logik und zündet sich die nächste Zigarette an.

Er nimmt sie behutsam aus einem kleinen Glas, in dem sie dekorativ wie Salzstangen stehen. Er raucht sie auch ungefähr in der Zahl, wie man Salzstangen isst. Daneben liegen wie hingeworfen Arzneimittelpackungen. Bei diesem Meister der geringsten Andeutung ist das eine definitive Aussage. Seitdem das Rauchen als Akt passiven Widerstands gegen den Zeitgeist gelten darf, widmet er sich dieser Tätigkeit mit noch größerer Überzeugung als vorher. Mit zwei neuen Stents am Herzen sitzt er am Erkerfenster seiner Pankower Wohnung und genießt den ersten Tag ohne Zahnschmerzen, denn auch eine Kieferoperation hat er soeben überstanden.

Lerne leiden, ohne zu klagen! Lerne klagen, ohne zu leiden!, formulierte unlängst ein verwandter Geist. Das Gewitter draußen scheint unmittelbar über Hussels Haus zu stehen, und da geht es vorläufig auch nicht weg; es ist, als schlügen die Blitze direkt in seinem Rücken zwischen den Balkongeranien ein, aber er dreht sich nicht einmal um. Wahrscheinlich sind ihm die Effekte zu banal. Viel zu grell. Viel zu laut. Er mag das nicht. Wirkliche Kunst, seine Kunst, ist anders.

Radierung von Horst Hussel.
Radierung von Horst Hussel.

© Archiv Anke Zeisler

Eigentlich wollte er nie jemandem missfallen. Nicht einmal der Schwester in „Maria Heimsuchung“, die gleich nach seiner Ankunft zu ihm sprach: „So, und jetzt legen wir uns ins Bett!“ – Wieso?, fragte Hussel zurück und blieb sitzen. Er konnte nicht anders. Woher sollte sie wissen, dass hier der wohl erste und letzte Dadaist der DaDaR vor ihr stand? Als die Ölbilder der DDR-Malerei immer monumentaler wurden, reichte er seinen Beitrag zur Kunstausstellung der Republik in einem kleinen Briefumschlag ein. Große Inhalte groß malen kann jeder oder fast jeder, aber das Nichts verschwindend klein in immer anderen Verwehungen, immer neuem Kaum-Da porträtieren? Nein, man kann einem real existierenden Dadaisten nicht sagen, was er tun soll. Er kann vieles, aber machen, was er soll, das kann er nicht.

Ein leicht melancholischer Leuchtturmwärter

Wahrscheinlich ist Horst Hussel deshalb schon aus der Hitlerjugend rausgeflogen. Sport? Geländespiele? Kleinkaliber? „Das Programm gefiel mir nicht. Das Marschieren und das Singen auf der Straße hatten nicht mein Interesse.“ Danach schmiss ihn die Dresdner Hochschule für Bildende Künste raus. Das war schon in der DDR. Wegen „formalistischer Umtriebe“, sagte sie. Entweder er gehe von selbst, oder man müsse… Horst Hussel sieht aus wie ein leicht melancholischer Leuchtturmwärter, er spricht auch so. In Greifswald ist er geboren, das ist ihm wichtig, sehr wichtig. Und wie lange blieb er dort? Vierzehn Tage, die ersten, antwortet er mit ernster Würde.

Als sein Vater starb, war seine Mutter im siebten Monat schwanger. Vielleicht ist es das. Vielleicht macht er Kunst wie jemand, der mit sieben Monaten im Bauch seiner Mutter den Vater verlor. Ein gewisser pränataler Wirklichkeitsvorbehalt ist ihm geblieben. Zuzüglich seines Genies. Ja, davon darf man wohl reden. Genie ist die Erzeugung dessen, was es vorher noch nicht gab. Eine Höhenzugangstechnik. Natürlich ist man etwas allein dort oben. Aber kein Weltenerzittern entgeht diesem zärtlichen Seismografen mit dem Stift in der Hand.

Eine Figur von Horst Hussel.
Eine Figur von Horst Hussel.

© Archiv Anke Zeisler

Horst Hussel versteht noch immer nicht, wie andere mit nur einer Wirklichkeit auskommen. Er kann das nicht. Und wieso heißt es „die“ Wirklichkeit? Das klingt so ungut totalitär. Hussel bewohnt am liebsten seine eigenen Wirklichkeiten. Und macht sie nach Möglichkeit zu denen der anderen. Man nennt diesen Vorgang auch künstlerisches Schaffen, schon richtig. Aber warum hier schon aufhören?

Im Jahr 2002 erfuhr das Land von Albrecht Kasimir Bölckow aus Gägelow, Komponist der sinfonischen Dichtung „Die Friedrich Franz Eisenbahn“, des Fliegenchorals „Jubilate“ sowie einer Windsinfonie; geboren im gleichen Jahr wie Wagner und Verdi, Hussel hält das für symptomatisch. Denn er ist Bölckows Entdecker. Bölckow, der mecklenburgische Avantgardist europäischen Ranges, sagt er, nur leider vergessen wie so viele mecklenburgische Genies. Der Deutschlandfunk produzierte ein Feature mit Expertenstimmen, Zeitungen berichteten, es gründete sich eine Bölckow-Gesellschaft, in der auch Nike Wagner Mitglied wurde, die „Gägelower Blätter“ erschienen, und Gägelow stand Kopf. Vielleicht war Horst Hussel niemals vorher und niemals nachher so zufrieden wie damals.

Hussel’sche Beharrungskraft

Der Infinitesimalzeichner gab Interviews und hielt Vorträge, er kann noch heute stundenlang über den Komponisten der „Friedrich Franz Eisenbahn“ sprechen. Wer wisse denn schon, dass Bölckow, der Erfinder des dissonanten Kontrapunkts, das Tonartensystem nie anerkannt habe?

Hussel hatte einst nur aus Liebe zur Musik zu malen begonnen. Bühnenmaler wollte er werden, seit er den ersten Puccini in der Wismarer Oper hörte. Die Wismarer Oper? Egal. Spätestens jetzt würde er in die Geschichte der Musik eingehen. Es gibt nicht leicht jemanden, der so viel weiß wie Horst Hussel, weiß Horst Hussel. Er freut sich noch heute darüber, dass immer mehr Menschen auf dem Friedhof eines kleinen mecklenburgischen Dorfes Bölckows Grab suchten und verstand deren Enttäuschung, als sie es nicht fanden. Ja, er wurde selber ganz traurig darüber.

Was ist Wirklichkeit? Letztlich eine Frage der Übereinkunft, was wir für wirklich zu halten bereit sind. Daran, das ist Hussels Überzeugung, muss man arbeiten, sehr hart arbeiten.

Gägelow liegt ganz in der Nähe von Sternberg, zwischen Wismar und Güstrow. In Sternberg ist er aufgewachsen. Hussel spricht noch immer so, als hätte er es gestern verlassen. Daran haben fünfzig Jahre Berlin nicht das geringste ändern können. Das ist Hussel’sche Beharrungskraft. Außerdem ist diese gewisse Gemächlichkeit der Rede mit den Vokalen, die klingen, als sei jemand draufgetreten, eine gute Tarnung. Denn sie legt eine gewisse Gemächlichkeit des Geistes nahe. Und darin eben besteht die Täuschung.

Er ging zurück in den Osten. Keinen Augenblick habe er gezögert

Hussel denkt noch immer über die „formalistischen Umtriebe“ nach. – Umtriebe? Formalistisch? Er? – Nie!, beteuert Hussel. Als die Dresdner ihn wegschickten, ging er nach Berlin, an die Kunsthochschule in Weißensee. Das war 1954. Vier Jahre blieb er dort und war schon fast fertig mit seiner Diplomarbeit, als die Schule ihn wegen „dekadenter künstlerischer Auffassungen“ exmatrikulierte. Dekadente künstlerische Auffassungen? Er? – Nie! Bloß nicht in den Ruf eines Dissidenten gelangen! Er mag den Typus nicht. Es gibt keine heroischen Dadaisten. Andere haben es leichter. Die werden, was die meisten werden: irgendjemand. Er hat diese Wahl nie gehabt. Er malte und zeichnete von Anfang wie er selber. Man könnte es fortgeschrittene gegenständliche Ungegenständlichkeit nennen. Fantasie ist vor allem eine Frage der Präzision.

„Schauen Sie sich meine Arbeiten doch an! Ich habe keine Vorläufer!“ Es klingt nicht zufrieden, eher verzweifelt. Von Horst Hussel lässt sich lernen, was es heißt, sich selbst anzugehören, und welchen Preis man dafür zahlt.

Jede Schule optimiert das Mittelmaß. Wahrscheinlich hat Horst Hussel aus Sternberg bei Wismar die Kunstschulen auch nie besucht, um etwas an ihnen zu lernen. Aber er hing an der Existenzform des Studenten, dieser Suspendierung von dem, was die Abgesandten vom engherzigen Realitätsbegriff den „Ernst des Lebens“ nennen. Also ging er diesmal nach Berlin-Charlottenburg zu Friedrich Stabenau, auch hatte Westberlin umwerfende Galerien. Doch plötzlich stand die Mauer zwischen ihm und Charlottenburg.

Horst Hussel ging zurück in den Osten. Keinen Augenblick habe er gezögert. Er sagt es mit einer fast husseluntypischen Entschiedenheit und greift in das Salzstangenglas. Alle Sternberger Nazis, die er kannte, seien in den Westen gegangen, auch der Fähnleinführer, der seiner Mutter erklärte, dass nie ein Hitlerjunge aus ihm werden könne und dass ergo überhaupt nichts aus ihm werden könne. Westdeutschland war ein Scheißhaufen, fasst Hussel seinen Eindruck zusammen.

Er zeichnete für 130 Bücher

Und was war die DDR? Der kleinere Haufen mit den größeren Idealen? Was sollte aus einem dadaistischen Zeichner der gegenständlichen Ungegenständlichkeit im Osten werden, aus einem begnadeten Porträtisten des Nichts? Er fragte den Volk-und-Welt-Verlag, ob er nicht einen Illustrator gebrauchen könne. Und mit seinen Buchillustrationen wurde Horst Hussel berühmt. Für 130 Bücher hat er gezeichnet! Längst wurde ihm der leicht sentimentale Ehrentitel eines „Bilderpoeten“ zuerkannt. Illustration ist ohnehin das dümmste aller möglichen Wörter für das, was er tat. Gute Illustrationen illustrieren nichts, sie sind Zwiegespräche mit dem Text. Bis heute zeichnet er für Katharina Wagenbachs Friedenauer Presse die Umschläge.

Seltsam genug hielten die Ostler ihn meist für einen Westler. Die Westler dagegen hielten ihn für einen Ostler. Vielleicht, weil er wie jeder Leuchtturmwärter nirgends richtig hinpasst, nicht mal richtig ans Festland mit seinen Festlandbegriffen. Und benimmt er sich denn wie ein Künstler? Für ihn waren Umzüge stets eine gute Gelegenheit, Bilder einfach stehen zu lassen, halb aus Nachlässigkeit, halb aus Berechnung, wenn sie ihm nicht mehr gefielen. Ballast abwerfen! „Ich hab’ nichts von mir“, pflegt er zu sagen.

1990 erhielt er sein Weißenseer Abschlusszeugnis doch noch, aber sonst? Anschluss. Beitritt. Das sind keine Assoziationsformen, die auf den Beifall eines Surrealisten rechnen dürften. Das hatte keine Würde. Die Verlage, für die er zeichnete, lösten sich vor seinen Augen auf. Sein Leben löste sich vor seinen Augen auf. Er beobachtete es mit distanziertem Interesse. Sollte man nicht ohnehin nur in Staaten leben, die man selbst gegründet hat? Horst Hussel entdeckte die völlig zu Unrecht in Vergessenheit geratene Freie Räterepublik Mekelenburg und schuf ihr eine eigene Währung. Außerdem gründete er seinen eigenen Verlag, die „Dronte-Presse“, ein Unternehmen kompromissloser Buchkunst auf der Grundlage kompromissloser Selbstausbeutung. Er hat alle seine Lieblingsdichter verlegt, Paul Scheerbart, Kurt Schwitters und all die anderen, denen die Erde zu eng war.

Wen bitte soll er abbilden?

Hussel weiß, dass er ein Bedeutungsproblem hat. Gewöhnliche Maler sitzen vor ihren großen Staffeleien mit den großen Bildern drauf, auf denen sie ihre Zeit abbilden. Wen bitte soll er abbilden? Er hat nicht mal eine Staffelei. Trotzdem. Ein wenig kränkt es ihn schon, dass er auf die Frage „Woran arbeiten Sie gerade?“ nicht recht antworten kann. Auf seinem Schreibtisch liegt eine ätherische Umspielung des Nichts mit drei roten Punkten drauf, aber Hussel ist trotzdem unzufrieden. Irgendetwas stimmt da noch nicht! Auch hat er gerade 269 Dialoge von je zwei alten Frauen, also 538 alten Frauen auf einer Friedhofsbank geschrieben. Sein Verleger hat gesagt, 134 davon müssen wieder weg. Er weiß noch nicht welche.

Einmal in der Woche kommt seine chinesische Haushaltshilfe, eine Informatikstudentin. Dann kocht er für seine Haushaltshilfe, und sie reden lange über China. Wahrscheinlich hält er es manchmal für einen Irrtum, dass er nicht als Chinese auf die Welt kam. Dieses Alphabet! 87 000 Schriftzeichen, Ideogramme, wie er sie selber nicht besser hätte erfinden können. Auch fällt es da gar nicht auf, wenn man ein paar hinzufügt.

Das Gewitter ist weg. Zwischen Güstrow und Weimar öffnen gleich die Hussel-Ausstellungen, die erste in der Galerie Anke Zeisler im Prenzlauer Berg. In Hussels Flur hängen zwei große surrealistische Bilder von Friedrich Schröder-Sonnenstern, Heiratsschwindler, Wahrsager, Heilmagnetist und bedeutendster Vertreter der Art Brut oder Outsider-Art, Schöpfer von Werken wie die „Mondmoralische Praxis“. Mit ihm war er befreundet. Wenn Horst Hussel zur Tür hineintritt, sieht er Sonnensterns bemerkenswert unbekleidete Frau auf Entenkopffüßen vor dem Teufel weglaufen. Sie läuft geradewegs in den Rachen eines Haifischs. Das ist die conditio humana. Keiner entkommt ihr. Darunter steht Hussels Rotweinregal.

Gegen die Schwester von „Maria Heimsuchung“ hat er am Ende doch gewonnen. Er legte ihr ein amtsärztliches Attest vor, in dem stand, dass der Verzicht auf Rotwein und Zigaretten der Gesundheit des Patienten nicht zuträglich sei.

Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.

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