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Horst Janssen bei Brockstedt: Brachial sensibel

Die Galerie Brockstedt würdigt den genialen Zeichner Horst Janssen zu seinem 90. Geburtstag.

Mit altmeisterlichem Strich porträtierte Horst Janssen nicht nur sich selbst unzählige Male, sondern nahm ebenso geliebte wie ihm missliebige Menschen seiner Umgebung mit Stift und Pinsel aufs Korn. Der 1929 geborene und 1995 gestorbene Künstler wäre in diesem Jahr 90 geworden.

Hinterlassen hat er ein großartiges Werk, ihm selbst wird aufgrund seiner technischen Brillanz als Zeichner ungeteilt Respekt gezollt. Allein weil er durch viele Blumenzeichnungen und -radierungen im Gedächtnis ist, die durch Plakate und Kalender massenhaft Verbreitung fanden, haftet ihm der Ruf eines Kitschiers an.

Völlig zu Unrecht, wie sich an der Ausstellung in der Galerie Brockstedt belegen lässt. Der Strich von Janssen, ob für eine Radierung oder für eine Zeichnung, ist von größter Zartheit und verdeutlicht das intensive Verhältnis zwischen Leben und Tod in jedem Werk. Die Brüchigkeit des Daseins, die Vergänglichkeit ist in allen seinen Bildern spürbar.

Bereits im Eingangsbereich hält die Ausstellung ein großartiges Frühwerk bereit. Es ist ein ungewohnt großes Blatt mit dem nackten Torso einer jungen Frau, unbetitelt und 1954 entstanden (30 000 Euro). Im unteren Bildbereich deutet sich turbulentes und nahezu dadaistisches Gewirr aus tastenden Fingern, liegenden Körpern und einer rätselhaften Schere an.

Erotische Darstellungen ziehen sich durch Janssens gesamtes Werk. So hingebungsvoll der brachial Sensible mit seiner Bildsprache in Liebe schwelgte, so stark konnte er seiner Verachtung in Schimpfkanonaden Ausdruck verleihen. Überhaupt gehört die Sprache zum Janssen‘schen Werk wie die Nadel zur Radierung.

Energische und höchst biografische Kunst

Er war ein Multitalent und konnte ebenso präzise mit Worten umgehen wie mit seinen Stiften und Pinseln. Als ob er sich nie zwischen seinen grandiosen Talenten entscheiden konnte, sind viele bildnerische Werke von Worten, ja Sätzen begleitet.

Nie glatt, sondern immer mit einer spontanen Geste, die den aktuellen Gemütszustand des gebürtigen Hamburgers spiegelte. Seine Kunst ist deshalb energetisch, höchst autobiografisch, schamlos und unverstellt.

[Galerie Brockstedt, Mommsenstr. 59; bis 20. 12., Di–Fr 10–18 Uhr, Sa 11–14 Uhr]

Die Morbidität in den Blättern kommt aus einer tiefen Überzeugung, denn „Zeichnen heißt nichts anderes als sterben lernen“, hat er mal dem Publizisten Joachim Fest gegenüber geäußert. Völlig ungeschminkt setzte er sich in seiner drallen Körperlichkeit gern selbst ins Bild. Auch hierfür fand er bezeichnende Worte wie Selbstentlarvung, Selbstbeweinung oder Schlachtfest.

In dem grandiosen Hochformat „heute vorgelegt – gezeichnet im Skelettjahr 85“ (52 000 Euro), dessen Ursprungsblatt der Gestik zu wenig Raum bot und Janssen zum Ankleben eines weiteren Papiers zwang, erinnert er mit Leibesfülle und dem legendären Morgenmantel an Honoré de Balzac, dessen Hang zur realistischen Schilderung auch bei Janssen trotz aller Schnörkel spürbar ist.

Die Dramen des Himmel- und Wolkentheaters

Jenseits der Menschendarstellung beweist Janssen aber eine ebenso empathische Nähe zu Landschaft und Natur, in die er nach seinem Motto „Fressen der Welt mit den Augen“ gerade zu eintauchend nachspürt.

Dass er dies sogar noch konnte, nachdem er sich die Augen mit Säure verätzte und lange Zeit auf die Schilderung von Landschaft durch seine Freundin Heidrun Bobeth angewiesen war, ist in der Serie „Bobethanien“ eindrucksvoll belegt. Die Dramen des Himmel- und Wolkentheaters, das die nordische Landschaft so prägt, hat Janssen in höchster Perfektion auf Papier gebannt.

Apropos Papier. Weil das komplette Werk Janssens auf diesem so lichtempfindlichen Material fußt, ist es nicht für Dauerausstellungen geeignet und darf aus konservatorischen Gründen immer nur temporär dem Licht ausgesetzt werden.

Vielleicht ist dies auch eine Erklärung dafür, dass Janssen lange nicht so kanonisiert ist, wie es ihm gebührt. Ein Grund mehr, sich die Ausstellung der Galerie Brockstedt auf keinen Fall entgehen zu lassen.

Matthias Reichelt

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