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Kultur: Hurra, die leben noch!

Anarchie & Mythos: Judith Malina, Gründerin des Living Theatre, stürmt die Berliner Akademie

Anarchie? Utopie? Mein Gott, wo sind wir hier gelandet! Im Theater? Aber in welchem denn? Geht denn nie zu Ende, was immer wieder von Neuem beginnt?

Ecce homo. Es gab einmal eine Szene, bis eben noch tief im Gedächtnis vergraben, da sah man den Kopf von Julian Beck, einen Schmerzensmann mit langem dünnen Haar, einen Guru mit ebenso stechendem wie gütigem Blick, eine Kreuzigungsszene, und es kommt einem vor, als sei das Jahrhunderte her.

Julian Beck, der Schauspieler, die historische Theaterfigur, ist lange tot. Er starb 1985. Doch wie es scheint, ist sein großes, zorniges Kind, das Living Theatre, das älteste, berühmteste freie Theater der Welt, Ende der vierziger Jahre in New York gegründet, unsterblich.

Dafür spricht an diesem Abend in der Berliner Akademie der Künste einiges. Für das ewige Überleben. So überfüllt war es am Hanseatenweg seit Menschengedenken nicht mehr, und wann herrschte im Akademie-Altbau eine derartig emotionalisierte, von Geist und Geistern erfüllte Enge. Auf der Bühne: Judith Malina. Am 4. Juni wurde sie achtzig. Und jetzt wird die Schauspielerin, die Agitatorin, die einst mit ihrem Partner Julian Beck das Living Theatre erfand, mit standing ovations gefeiert, immer wieder. Diese kleine Person mit dem elektrisierten Haar, mit der scharfen Stimme der Komödiantin, die gewohnt ist, sich auf großen Menschenansammlungen auf der Straße durchzusetzen und in großen Hallen, wie damals, im Berliner Sportpalast, als die Living Theatre-Akteure das totale Theater ausriefen und sich Szenen abspielten wie nur bei Rockkonzerten oder auf Demos.

Aber Judith Malina, geboren 1926 in Kiel als Tochter eines Rabbiners und einer verhinderten Schauspielerin, geht in keine nostalgischen Fallen. Nicht so leicht. Sie spricht deutsch, spricht im erhobenen Ton, den man heute auch im Staatstheater schon lange nicht mehr findet. Sie findet, dass es heute besser sei als 1968, die Demonstrationen jetzt sind nicht nur massenhafter, sondern auch nicht mehr nur eine Sache von Studenten – wenn es gegen „diesen unnötigen Krieg“ der USA geht, gegen die Globalisierung.

Da springen sie auf, weißhaarige Berliner Theaterveteranen genauso wie junge Leute aus der Attac-Szene. Riesenbeifall, wenn Judith Malina das Wort Anarchie nur anspricht. „Wir müssen ein höheres Ziel haben und nicht immer nur die kleinen Schritte machen.“ Der Saal tobt. Hier bricht sich eine aufgestaute Sehnsucht Bahn, nach einer klaren politischen Haltung der Theaterkunst, die heute eben meist Kunst ist.

Das Veteranentreffen, zu dem auch sehr viele gekommen waren, die das Living Theatre in seiner Blütezeit der Sechziger nicht erlebt haben können, erreicht die Gegenwart. In New York wird bald ein neues Haus für die Company eröffnet. Im East Village, Clinton Street. „The Brig“, ein Klassiker des Living Theatre, wird zu neuem Leben erweckt. In dem Stück, über vierzig Jahre alt, geht es um Misshandlung unter US-Soldaten, um die strukturelle Gewalt des Militärs, um Folter auch. Mehr muss man nicht sagen. Die Zeiten haben sich verändert, oder nicht. Und manchmal wird die Zeit einfach angehalten, und man weiß nicht: Bin ich jetzt schon so alt – oder doch nur viel zu jung? Kann es denn wahr sein, dass Judith Malina frohlockt wie eine frisch politisierte Erstsemesterhexe: Ich bin Anarchist?! (Gewaltiger Szenenapplaus).

Mit dem Dokumentarfilm „Resist“ von Dirk Szuszies hob die Geburtstagsfeier an; das Living Theatre im Einsatz beim G-8-Gipfel in Genua, in New York nach dem 11. September, in einem israelischen Gefangenenlager im Südlibanon. Machbarkeitsstudien von Anarchie. Plötzlich steht Malina auf der Bühne, mit Hanon Reznikov, ihrem Partner im Leben und in der Kunst. Er ist Jahrgang 1950, so alt wie das Living Theatre, das auch sein Leben geworden ist, vor langer Zeit, nach einem Auftritt der Truppe in einem amerikanischen College. Reznikov, ein Hüne im Hippiehemd, war damals Liebhaber von Julian Beck und Judith Malina, und es ist einer der rührendsten Momente, wenn sie sagt, Utopie müsse man leben, überall, in Beziehungen, am Arbeitsplatz – und so viele Millionen Menschen in den USA hätten nicht nur den Glauben an den Präsidenten, sondern an das ganze System verloren. Das sagt sie freudestrahlend.

Theater ist ja überhaupt absurd: Ein Mensch stellt sich da oben hin und tut so. Und spricht so. Drei kleine Dramolettchen führen Malina und Reznikov vor. Antigone (80), die revoltierende Tochter, faltet ihren Onkel Kreon (56) zusammen. Dann ein Ausschnitt aus einem Stück von Reznikow, autobiografisch, schließlich Verse von W. H. Auden, aus „Refugee Blues“. Und dabei denkt man an Rilke, an seine Elegie auf die Gaukler: „ Wer aber sind sie, sag mir, die Fahrenden, diese ein wenig Flüchtigern noch als wir selbst ...“

Und wer sind diese Künstler da auf dem Podium, diese so beeindruckt wie bekümmert Dreinblickenden? Es entspann sich in der Akademie, moderiert von Peter von Becker (Tagesspiegel), ein denkwürdiges Gespräch über Theatergenerationen hinweg. Christoph Schlingensief lässt sich gern von Judith Malinas Energie „infizieren“, kommt aber mit der Forderung nach Utopie nicht klar. Matthias Lilienthal, Intendant des Hebbel am Ufer, verbeugt sich vor dem „Mythos Living Theatre, unter dem jeder sich zu jeder Zeit genau das vorgestellt hat, was er wollte.“ Das macht Mythos aus: Man erzählt ihn immer wieder neu, und anders. Daniel Wetzel vom „Rimini Protokoll“, das ja auch politisches Theater praktiziert, mit Laien, kommt das alles fremd vor, „altmodisch“.

Ist es ja auch. Nur: Die heutigen Theatermoden kommen von immer dünner werdenden Stangen. Das Loch in die Freiheit, das vom Living Theatre und anderen einst gesprengt wurde, ist so groß, dass man nicht mehr weiß, was mit der Freiheit anfangen. Dass schon anno 1965 auch Beck & Malina mit dem Scheitern von Utopie kämpften, zeigt ein kleiner Filmausschnitt, den Henning Rischbieter präsentiert. Das Living Theatre am Hanseatenweg. Damals waren sie oft hier, auf der Flucht vor den amerikanischen Behörden, sie lebten sogar eine Zeit lang in Berlin. Die Akademie als Kommune.

Schon ihre Mutter wollte bei ihm spielen: Judith Malina arbeitet jetzt an einem Buch über Erwin Piscator, den politischen Theatermann der zwanziger und sechziger Jahre in Berlin. Piscator war ihr Lehrer. Anarchist sein will gelernt sein.

Rüdiger Schaper

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