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Kultur: Hysterie der kalten Herzen

Frank Castorfs „Schuld und Sühne“ bei den Wiener Festwochen

Rodion Raskolnikow will vögeln und schafft es nicht. Kein Wunder. Wenn die Seele brennt, fördert die Liebe den Schmerz zu Tage, selbst wenn man seine letzten Groschen dafür hingelegt hat. Erlösung lässt sich nicht kaufen. Und auch der beste Freund ersetzt nicht den Therapeuten, das wird teuer. „Da fällt mir immer die Scheiße von früher ein“, wimmert Martin Wuttke als nervenzerrütteter Student. In seinem Schatten sitzt Milan Peschels Rasumichin mit der Miene des sanften Seelentrösters. Es wird an diesem Abend über sechs Stunden dauern, bis das Psychodrama durch eine Beichte endlich sein befreiendes Ende findet.

Alles beginnt mit einem Mord und endet mit einem Geständnis. Doch was Fjodor Dostojewski in „Schuld und Sühne“, seinem großen, sozialphilosophischen Roman von 1866, mit einem versöhnlich-melodramatischen Epilog beschließt, findet in Frank Castorfs Version keinen Platz. Religion und Liebe haben sich in postkapitalistischen Zeiten in ein Logikwölkchen aufgelöst. Ganz Russland ist ein Irrenhaus und Raskolnikows St. Petersburg der verwahrloste Hinterhof eines heruntergekommenen, dreistöckigen Wohnblocks mit schmuddeliger Kneipe im Erdgeschoss, davor ein blech-weißer Baucontainer, halb Bordell, halb Polizeiwachstube. Vor den Fenstern Gitterstäbe, auf denen ein pink leuchtendes Neonherz prangt: kalte Verheißung vor dem Hintergrund einer suburbanen Wohnhölle, in der zerstörte Seelen hausen. Über allem funkeln elektrische Sterne.

Nach „Dämonen“, „Erniedrigte und Beleidigte“ und „Der Idiot“ zeigen Frank Castorf und sein Ensemble der Berliner Volksbühne als Koproduktion mit den Wiener Festwochen die vierte Romanadaption des russischen Großromanciers. Bert Neumanns hyperrealistische Bühnentristesse mit den obligaten weißen Plastikstühlen und einem überdimensionalen Chanel-Werbeplakat über der Fassade trifft auf das barock-goldene Interieur des Theaters an der Wien. Das feudale Logentheater gibt den Rahmen für eine Premiere, die um einen Tag verschoben wurde, weil sich Hauptdarsteller Martin Wuttke bei den Proben die Hand gebrochen hat und Szenen neu adaptiert werden mussten.

Trotz Gipshand hastet Wuttke schonungslos treppauf, treppab, als könnte sich sein Raskolnikow, dieser „Mörder aus Ideologie“, die inneren Qualen sportiv abarbeiten. Wie bei Castorf üblich, werden die Szenen im Inneren des Wohnblocks mittels einer Handkamera oft simultan auf zwei Leinwände projiziert. Eine Wirklichkeit aus zweiter Hand, die an diesem Abend – mit Schnitt und Gegenschnitt – eine gegenüber früheren Produktionen deutlich elaboriertere Filmästhetik aufweist. Bei Dostojewski geplant, bei Castorf affektgeladen zufällig, erschlägt der mittellose Raskolnikow eine Pfandleiherin – Silvia Rieger in schwarzem Leder als keifende Hexe – und verfällt daraufhin zunehmend in einen Wahnzustand. Wuttke reißt sich die Kleider vom Leib, taumelt nackt zu Verhören in der Polizeistation – Thomas Thieme grandios als Porfiri Petrowitsch, ein Meister der psychologischen Kriegsführung; strandet bei willigen Mädchen (Irina Kastrinidis als käufliche Vermieterin) und landet schließlich bei philosophischen Diskursen nach der Frage über die Legitimät des Verbrechens als Befreiungsakt aus einem gesellschaftlichen Zwangssystem.

Jeannette Spassova als dominant-zickige, pelzbemäntelte Mutter und Birgit Minichmayr als Schwester Raskolnikows entpuppen sich schließlich als Huren, wie alle Frauen dieses Abends, auf die Castorf im Finale die Rolle der kindlich-blassen Sonja (Anastasia Bader) aufteilt. Angeführt von der Carmen-Arien trällernden Silvia Rieger, treiben sie in voodooartigen Beschwörungen den immer zittriger werdenden Raskolnikow zum Geständnis. Da geht das Licht auf der Bühne an, der Spuk ist zu Ende.

„Schuld und Sühne“ schildert bei Castorf ein Leben im Bordell, eine aus den Fugen geratene, sinnentleerte Welt. Doch was in seiner expressiven Sinnlichkeit den Riss zwischen Vernunft und Gefühl in Raskolnikows entfremdeter Seele wieder kitten könnte, vermag Castorf nicht zu entwickeln. Er exekutiert Dostojewskis Roman mit hysterischem Dauerdruck, als ginge es allein darum, einen vereinfachten Inhalt möglichst linear und plakativ zu vermitteln. Das langweilt und macht traurig.

Frank Castorf bekennt sich mit seiner Dostojewski–Adaption zur „Ohnmacht der eigenen Maßlosigkeit“, wie es auf dem Programmzettel seltsam prophetisch heißt. Sein Theater bietet an diesem Abend keine Erlösung in der Negation. Im Oktober hat „Schuld und Sühne“, wie üblich, an der Berliner Volksbühne Premiere. Da wird sich, wie üblich, auch noch dies und jenes wegkürzen.

Christina Kaindl-Hönig

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