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Kultur: „Ich bin der Zweite Weltkrieg“

Über Hitler und den Holocaust, über Poeten und Populisten, über Walser und Fortuyn. Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Harry Mulisch

Ihr Vater war K.u.kOffizier des Habsburgerreichs, Ihre Mutter Jüdin aus einer Frankfurter Familie, die in Antwerpen lebte. Und Sie sind ein weltberühmter holländischer Schriftsteller: eine ungewöhnliche Familie.

Mein Vater war österreichischer Offizier und mein Großvater mütterlicherseits war Wiener und Direktor einer Frankfurter Bank in Antwerpen. Dort lebte er mit seiner Frau und seiner kleinen Tochter. Mein Vater wurde dort im Ersten Weltkrieg einquartiert. Nach der Kapitulation 1918 mussten sie alle flüchten und gingen nach Holland, denn das war neutral. Dort hatte mein Großvater schnell wieder eine hohe Stellung in einer Bank - und dahin holte er auch meinen Vater. Meine Eltern haben dann 1926 geheiratet, da war meine Mutter neunzehn.

Ihre Eltern ließen sich 1936 scheiden, und Sie blieben bei Ihrem Vater. Wurde er im Zweiten Weltkrieg tatsächlich zum Kollaborateur?

Vater arbeitete in einer jüdischen Bank. Er war also kein Antisemit und schon gar kein Nazi. Als die jüdischen Besitzer der Bank nach England flüchteten, wurde mein Vater arbeitslos. Eines Tages aber hielt ein Mercedes-Cabriolet vor unserem Haus, und ein deutscher General stieg aus. Er war ein Freund aus dem Ersten Weltkrieg. Nun hätte mein Vater eigentlich sagen müssen: Ich bin jetzt Holländer, du bist Deutscher – du bist mein Feind. Stattdessen feierten sie ihr Wiedersehen. Als der General hörte, dass sein Freund von einst keine Arbeit hatte, besorgte er ihm einen Job. Mein Vater wurde so wieder Direktor einer ehemals jüdischen Bank, in der alle holländischen Juden ihr Vermögen hinterlegen mussten, ehe sie deportiert wurden. Mein Vater saß in der Falle. Allerdings wusste er auch, dass er mich – nach den Nürnberger Rassegesetzen Halbjude – nun besser schützen konnte. Mein Vater, der die hohen Herren kannte, bekam meine Mutter sofort frei, als sie einmal verhaftet worden war. Wäre mein Vater kein Kollaborateur gewesen, wäre meine Mutter mit 35 vergast worden. So ist sie mit 88 Jahren in den USA gestorben.

Wie haben Sie das als Kind wahrgenommen?

Ich ging jeden Mittwoch nach Amsterdam zu meinem Vater in die Bank. Dort trugen alle das Parteiabzeichen der NSDAP. Danach war ich bei meiner Mutter, die in einer jüdischen Einrichtung arbeitete. Dort trugen die Menschen den Judenstern. Ich habe mal über mich gesagt, ich bin der Zweite Weltkrieg: Das meine ich damit.

Wie deutsch, wie österreichisch, wie jüdisch sind Sie heute?

Ich sage immer, in Holland bin ich Gastarbeiter der zweiten Generation, und sehe mich im Grunde ganz als Europäer. Vor ein paar Tagen fuhr ich mit einem Taxi, der Fahrer war äußerlich ein Nordafrikaner. Ich fragte ihn: Was sind Sie? Marokkaner, sagte er. Wann sind Sie nach Holland gekommen? Ich bin hier geboren, antwortete er. Und da habe ich ihm erklärt, dass es genauso verrückt wäre, wenn ich sagte, ich sei Österreicher. Darin liegt das Problem der Integration: dass diese Leute noch glauben, in ihrer alten Heimat zu leben. Wenn sich das nicht verwischt, gibt es irgendwann einen großen Kladderadatsch.

War das Schreiben immer Ihr Berufsziel?

Ich wollte am liebsten Wissenschaftler werden. Aber das hätte ich nie werden können, mir fehlte schon das Abitur. Es stellte sich dann heraus, dass ich Schriftsteller war. Wirklich, ich war es bereits. Wer Schriftsteller werden will, der wird es nicht. Man ist es. Man lernt auch kaum hinzu, je länger man schreibt. Man legt nur Überflüssiges ab.

Eines Ihrer zentralen Themen ist Deutschland, sind die Nazis und der Weltkrieg.

Ich war 1956 in Weimar zu einem Heine-Kongress eingeladen. Als armer Schriftsteller lebte man dort wie ein Millionär und lernte alle kulturellen Größen kennen, Wolfgang Harich, Johannes R. Becher. Und dann hat man mich gefragt, ob man mir die DDR zeigen dürfe. Ich bekam einen Fahrer mit Wagen und eine wunderschöne Dame an meine Seite, die mir alles gezeigt hat. Sie war von der Staatssicherheit, das war mir klar. Aber es war mir egal, sie war ja wunderschön. Wir kamen dann auch nach Dresden, und ich sah nur eine Brache – Dresden war einfach nicht da. Ich schrieb dann das „Steinerne Brautbett“, das erste Mal, das ich über den Zweiten Weltkrieg schrieb.

Was bedeutete für Sie die Teilnahme am Eichmann-Prozess 1960 in Jerusalem?

Ich habe mir sofort gesagt, ich schreibe keinen Roman, ich schreibe eine Geschichte über diesen Mann. So konnte ich alles schreiben, was ich über Juden und Nazis zu sagen hatte. Meiner Meinung nach war Eichmann überhaupt kein Nazi, er war Polizist – und das habe ich geschrieben. Daraufhin bekam ich einen Brief von Hannah Arendt –

– die über den Eichmann-Prozess ihr Buch zur „Banalität des Bösen“ schrieb.

Und Hannah Arendt sagte mir: Genauso ist es. Eichmann war der ideale Diener und Erfüllungsgehilfe: ein moderner Typ. Wenn man ihm gesagt hätte, richte für die Juden in Madagaskar ein neues Land mit schönen Häusern ein, hätte er es genauso getan.

Sie haben dann auch Albert Speer getroffen.

Er sagte ganz offen: Wenn Hitler einen Freund hatte, dann war ich es. Es war ein Liebesverhältnis. Albert Speer war der Traum Hitlers. Hitler wollte ja Baumeister werden, stattdessen ist er Abreißer geworden. Speer sollte das tun, was Hitler eigentlich wollte. Selbst als alles in Trümmer fiel, haben sie sich nachts noch die neuen Baupläne angesehen und weiter geplant. Für mich war es schwer, sich immer zu vergegenwärtigen, wem man gegenüber sitzt. Ich fragte ihn, ob jemand später noch so einen unglaublichen Eindruck auf ihn gemacht hätte wie Hitler. Ja, sagte er. Und plötzlich platzte es heraus: Rudi Dutschke! Dutschke, der absolute Gegentyp zum Faschisten.

Martin Walser hatte in seiner Paulskirchen-Rede von der „Moralkeule“ Auschwitz gesprochen. Haben Sie verfolgt, wie in Deutschland durch Walsers „Tod eines Kritikers“ eine Antisemitismus-Debatte ausgelöst wurde?

Es wird nie richtig klar, was er meint. Das gefällt mir nicht an diesem Mann. Auschwitz als Moralkeule – so etwas würde ich nie sagen. Ist er ein Antisemit oder ist er es nicht? Es ist alles so unscharf bei Walser, und das ist an sich schon schlecht. Manche meinen, der Holocaust gerät, wenn in fünf oder zehn Jahren alle Täter und Überlebende tot sind, allmählich in Vergessenheit. Aber man wird davon noch in tausend Jahren sprechen – das ist das wahre tausendjährige Reich Hitlers.

Sie sprachen anlässlich Ihres letzten Romans „Siegfried“, in dem es um einen fiktiven Sohn Hitlers geht, von der „Endlösung der Hitlerfrage“. Wie haben Sie das gemeint?

Man hat Hitler immer zu ergründen versucht. Das jüngste Beispiel ist ein Buch über Hitlers angebliche Homosexualität. Völliger Quatsch natürlich. Alles wurde schon über Hitler gesagt. Nur eines nicht: Hitler ist nichts. Ich habe mich gefragt, ob Hitler noch einen Funken Liebe in sich hatte. Also gab ich ihm ein neues Stück Wirklichkeit, einen Sohn mit Eva Braun. Himmler spinnt darauf eine Intrige: Hitlers Sohn sei jüdischer Abstammung. Natürlich hätte Hitler irgendwelche Abstammungspapiere verschwinden lassen können. Oder hätte er ihn lieber umbringen lassen? Ich habe Joachim Fest und Rüdiger Safranski diese Frage gestellt, und beide sagten: Hitler hätte seinen Sohn umbringen lassen. Der Nihilist Hitler ist wie ein schwarzes Loch, und das ist das Nichts – für mich auch die Endlösung der Hitlerfrage.

Für viele Deutsche waren die Niederlande eine politische Idylle, bis zum Mordanschlag auf Pim Fortuyn.

Jeder hat an diesem Tag gedacht, hoffentlich war der Attentäter kein Marokkaner. Dann wäre drei Stunden später ein Pogrom im Gange gewesen. Man hätte ihre Wohnungen und Häuser angesteckt. Aber dass die Bevölkerung bis heute nichts über die Hintergründe des Attentats weiß, deutet doch daraufhin, dass etwas nicht in Ordnung ist. Man weiß nichts über den Tatverdächtigen. Das einzige, was man über ihn weiß: Er will nicht, dass wie in Stammheim die ganze Zeit das Licht in seiner Zelle brennt. Man behauptet, er sei radikaler Tierschützer, und weil Fortuyn die Nerzzucht wieder zulassen wollte, habe er ihn umgebracht. Aber er sagt nichts. Im Internet blühen die wildesten KoTheorien und Spekulationen.

Plötzlich entpuppt sich Breughel als Hieronymus Bosch. Hatten die Deutschen ein falsches Bild der Niederlande?

Früher hatten sie ein falsches Bild. Das fing schon mit der Sprache an. Niederländisch, das war so ein niedlicher friesischer Dialekt. Diese Phase ist jetzt wohl vorbei. Hier in den Niederlanden hatte man vor ein paar Jahren eine Zeit, wo gerade viele junge Leute antideutsch eingestellt waren. Ich dachte erst, das läge irgendwie noch am Zweiten Weltkrieg. Ich fragte dann meine Tochter, die auch antideutsch eingestellt war. Sie sagte, sie sei wegen der deutschen Drogentouristen so aufgebracht. Was sich die Deutschen einfach nicht vergegenwärtigen, ist die Tatsache, dass sich in Deutschland alles geändert hat, nur nicht die Sprache. Und das ist die Sprache, die man während der Besatzungszeit hier in den Niederlanden immer hörte. Wenn heute Deutsche am Strand schreien, wie auch Holländer am Strand schreien, wissen die nicht, was das für einen Eindruck macht. Das wirkt wie das Holländische in Südafrika. Außerdem stehen die Deutschen und die Holländer Rücken an Rücken. Die Holländer waren wie die Engländer eine große Seemacht - und schauten übers Meer und nach Westen. Während die Deutschen immer nach Osten blickten – in die Taiga. Für uns Holländer ist Deutschland der Osten. Mit Europa ändert sich das. Wir müssen uns beide um 180 Grad drehen, um uns anzusehen. Natürlich dauert das bei den Engländern etwas länger. Aber es wird schon.

Kommentatoren sagen, dass ein politisch indifferenter Populist wie Fortuyn in vielen Ländern der EU möglich wäre. Wie erklären Sie sich die Faszination eines solchen Charakters?

Ich weiß nicht, ob er politisch wirklich indifferent war. Aber es war eben dieser Mann: wie er aussah, wie er redete, wie er lachte, wie er alles aus sich rausließ und keine Geheimnisse hatte. Da rum haben die Leute sich in ihn verliebt – und ihn natürlich auch gehasst. Meiner Meinung nach kann man ihn gar nicht vergleichen mit Schönhuber oder Le Pen. Vielleicht mit Haider ein bisschen. Es war wie ein wunderliches Naturereignis. Das empfand ich auch. Ich hätte ihn nie gewählt, war aber selbst fasziniert von ihm. Das hat natürlich eine gefährliche Seite.Für ihn selbst war sie am gefährlichsten.

Politiker müssen heute medial omnipräsent und so medientauglich sein wie Showmaster. Woher kommt diese Entwicklung?

Ich glaube, das war früher nicht anders. Nur waren die Gemeinschaften kleiner. Bei Julius Caesar standen auf dem Forum auch die Menschen herum und haben applaudiert. Es geht immer um die persönliche Wirkung, die politischen Ansichten sind da zweitrangig. Mir hat ein französischer Soziologe mal erzählt, dass er nach einer Wahl in Frankreich die Plakate von Mitterrand und Giscard d`Estaing in einem Dorf in Thailand aufgehängt hatte, wo niemand französisch sprach. Dort ließ er die Wahl wiederholen. Das Ergebnis war fast genauso wie in Frankreich.

Das Gespräch führten Melanie Feuerbacher und Roland Ernst.

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