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Kultur: Ich bin ein Buch – holt mich hier raus!

Dichtung und Wahrheit: Die Debatten um anonyme, mystifizierte, skandalisierte Publikationen häufen sich

Das Publikum kann sich nicht beklagen. Es bekam in den letzten Monaten einiges geboten: Sachbücher wurden nicht ausgeliefert oder zurückgezogen, Romane wurden verboten, Verleger traten ciceronisch im Gerichtssaal auf. Und Autoren zeigen ihre Narben. Es geht recht bunt zu in der Bücher-Republik. Doch was nach einer Soap Opera mit zuweilen überraschend begabten Laienschauspielern aussieht, dient nicht der Gaudi. Jedes Mal verhandelt die Gesellschaft aufs Neue die Fragen Dichtung oder Wahrheit, Urteil oder Verleumdung. Dass sich die Anlässe derzeit häufen, deutet auf tektonische Verschiebungen hin.

Der jüngste Fall: Nima Zamars Mossad-Story „Ich musste auch töten“. Die französische Jüdin erzählt darin, wie sie als israelische Agentin bei der libanesischen Hisbollah eine Terrorausbildung absolvierte, bei radikalen arabischen Gruppen spionierte, mordete und gefoltert wurde. Alles erdichtet, hieß es schon im Dezember im ZDF-Kulturmagazin „Aspekte“ über die bei Albin Michel in Paris erschienene Originalausgabe. Zamar hatte im Interview auf ihre Narben verwiesen, die sie freilich ebenso wenig wie andere Beweise zeigen wollte.

Tatsächlich fragt man sich, wie der Kindler Verlag die zahlreichen Ungereimtheiten übersehen konnte: Der Mossad wirbt eine in Frankreich geborene Jüdin an, die Arabisch erst noch lernen muss; im Zeitalter des Internet muss sie höchstpersönlich im feindlichen Computerzentrum Spionage-Software installieren; die schwer verletzte Undercover-Agentin bringen arabische Kämpfer ausgerechnet in die israelische Heimat. Hollywood hätte dankend abgelehnt. Der Kindler Verlag aber lobt ein „atemberaubendes Dokument“. Als die Kritik zunahm, erklärte Verleger Alexander Fest, Zamars Geschichte sei spannend, was ja auch etwas wert sei. Dann zog er am 12. Januar, vier Tage vor der geplanten Auslieferung an den Buchhandel, die Notbremse. Nun liegen 12000 Exemplare in einer Lagerhalle herum – Sondermüll, der selbst zu Altpapier erst nach einer aufwendigen Vorbehandlung taugt.

Einen ähnlichen Fall sitzt der Heyne Verlag einfach aus: Ungerührt verkauft er die wohl weitgehend tatsachenfreie Enthüllungsstory „Todeszone“ über bundesdeutsche Sabotageakte in der DDR. Anders der seriöse Hoffmann und Campe Verlag: Er zog „Mitten in Afrika“ zurück, als bekannt wurde, dass Autorin Ulla Ackermann Leid und Horror erfunden hatte. Einen dritten Weg wählte der Suhrkamp Verlag: Nachdem Ted Honderichs „Nach dem Terror“ wegen der moralischen Rechtfertigung von palästinensischen Attentaten zu Protesten geführt hatte, verzichtete er auf eine zweite Auflage. Inzwischen ist Honderichs Traktat überarbeitet, aber in der Tendenz unverändert im Melzer Verlag erschienen.

Zamars Agentenlatein ist zumindest teilweise fiktiv wie „Todeszone“ oder „Mitten in Afrika“, täuscht dem Leser aber Fakten vor. Und wie die zynischen Äußerungen Honderichs treten die rassistischen Zamars die Humanität mit Füßen. Zamar nennt ihre arabischen Ausbilder „Unmenschen“, auf der Straße wird gelyncht, wer nur den Kopf schüttelt, und während arme Israelis reinlich leben, existieren arme Araber wegen ihrer unheilbaren „fatalen Selbstmordhaltung“ im Müll. Das Buch sei antiarabisch, nicht antiisraelisch, befand die FAZ. Eher ist es auf krude Weise beides: Denn wer denkt hier eigentlich rassistisch?

Freiheit der Kunst?

Die Grenze zwischen Dichtung und Wahrheit müssen nicht nur Sachbücher, sondern auch Romane respektieren, wenn auch von der anderen Seite her. Zwei Schriftsteller wollten jedoch die biografischen Fakten für ihre Fiktionen nicht missen: Alban Nikolai Herbst erzählt in „Meere“, Maxim Biller in „Esra“ von einer ehemaligen Geliebten. Eher liebevoll der eine, deutlich hasserfüllt der andere. Mühelos konnten Bekannte, bei Biller gar Fremde die in intimen Handlungen beschriebenen Frauen identifizieren. Zu viel nackte Tatsachen also, zu wenig Dichtung, um die Freiheit der Kunst in Anspruch zu nehmen. Die Betroffenen ließen die Romane gerichtlich verbieten.

Ja, ist denn die Grenzüberschreitung nicht ein zentrales Projekt der Moderne? Diese wollte die von der bürgerlichen Gesellschaft sorgsam geschiedenen Sphären Kunst und Leben wieder zusammenführen. Das führte zu schönen Ergebnissen in den ersten Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts, wanderte als Prinzip gar in die Wissenschaften ein (Interdisziplinarität) – und endete als Groteske in den Verstopfungen, an denen Rainer Langhans (oder war es Fritz Teufel?) auf der türlosen Toilette der „Kommune 1“ litt.

Seit diesen Winden weht ein schärferer Wind. Tabus gibt es in westlichen Gesellschaften kaum mehr, Vorstellungen von Transzendenz ebenso wenig. Nicht einmal von utopischen Welten ist seit 1989 noch die Rede. Übrig geblieben ist allein das Leben. Die Wochenzeitung „Die Zeit“ besitzt ein gleichnamiges Ressort, Lebensbeschreibungen boomen, Dreißigjährige verfassen Autobiografien, das Fernsehen stellt das Sozialwohnungsdasein sinnigerweise im Container nach, und eine christliche Sekte lockt: „Bibelleser haben mehr vom Leben!“

Unter der Hand hat sich das Leben allerdings verändert. Es leuchtet. Es ist interessant. Aufregend. Abenteuerlich. Es ist all das, was vorher als sein Gegensatz galt. Dröge darf es jetzt nicht mehr sein. Eine saturierte Freizeitgesellschaft scheut weder Tod und Teufel noch Wollust und Geiz – nur die Langeweile. Alles muss unterhalten. Der Druck, Außergewöhnliches oder Provokantes zu schildern, ist ungeheuer, und immer öfter erliegen ihm Medien und Autoren nicht nur des Boulevardjournalismus. Sie erfinden Begebenheiten und spitzen Thesen provokant zu. Ähnlich locken Schriftsteller mit dem Blick durchs Schlüsselloch. Was im Reality-TV, Info- und Edutainment des Privatfernsehens begonnen hat, ist zur Maxime geworden: Die Mischung macht’s. Darin sind sich Programmmacher mit Kaffeeröstern einig – und oft genug mit den Zuschauern.

Dazu passt, dass manche Vermutung einer Fälschung zum Enthüllungsfuror führt: Jens Bisky fragte in der „Süddeutschen Zeitung“ mit guten Gründen, ob das Tagebuch der in Hans Magnus Enzensbergers „Anderer Bibliothek“ erschienenen „Anonyma“ aus dem Berlin des Jahres 1945 nicht vom Nachlassverwalter frisiert worden sei – und zerrte dabei den Namen der Frau an die Öffentlichkeit, die mehrfach von Sowjetsoldaten vergewaltigt worden war und anonym bleiben wollte. Postume Leichenfledderei im Namen der Wahrheit: auch das ein Fall von problematischer Grenzüberschreitung. Dass sich Enzensberger danach zu persönlichen Ausfällen hinreißen ließ, gehört in dieselbe Kategorie. Wer seinem in der DDR aufgewachsenen Kontrahenten unterstellt, er erniedrige das Vergewaltigungsopfer und verteidige „die Ehre der Roten Arme“ mit der „bewährten Methode linker Propaganda“, mit der Diskreditierung von Tatsachen, wirkt als Fürsprecher menschlicher Würde nicht wirklich überzeugend.

Spezialeinsatz der Lektoren

Auf diesem Markt der Menschen, Tiere und Sensationen müssen die seriösen Buchverlage mithalten. Doch haben sie in den letzten Jahren drastischen Stellenabbau betrieben. Die verbliebenen Lektoren müssen unter enormem Zeitdruck Empfehlungen von literarischen Agenten und Scouts vertrauen. Sachbuchmanuskripte werden, wenn nicht ohnehin lediglich ein mageres Exposé vorliegt, oft nur angelesen an externe Übersetzer und Lektoren weitergereicht. Bei Romanen dürfte ohnehin schwer herauszufinden sein, ob sie Persönlichkeitsrechte verletzen. Für Gutachten aber fehlen meist Zeit und Geld. Suhrkamp konnte immerhin eine Empfehlung von Jürgen Habermas zu Honderichs „Nach dem Terror“ vorweisen – doch Habermas hatte offenbar sehr eilig gelesen. Der Kindler Verlag berief sich im Fall Zamar auf drei Gutachter, darunter den Mossad, die freilich alle verneinten, ein Gutachten verfasst zu haben.

Wer Kontrollinstanzen wegrationalisiert, nimmt Irrtümer in Kauf. Er wertet den möglichen Schaden geringer als den Nutzen der Einsparungen. Notfalls gibt es ja noch den Rückzug. Wenn aber an den Schaltstellen der Öffentlichkeit gespart wird, wird diese, wie das Internet zeigt, diffus und unübersichtlich. Weil zudem gegenwärtig Fiktionen und Fakten miteinander verschmelzen, nimmt die Zahl der umstrittenen Fälle zu. Darauf reagiert sogar der sonst so schlagfertige, bisherige Leiter von Hoffmann und Campe ratlos. Die Verlage müssten auf Fälle wie Ulla Ackermann oder Nima Zamar, meint Rainer Moritz, mit Extra-Gutachtern und speziellen Lektoren reagieren. Aha.

Jörg Plath

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