zum Hauptinhalt

Kultur: Ich bin kein Mauerfotograf

Herr Lehnartz, Ihre Fotos sind weltberühmt und hängen in Museen. Doch Ihr berühmtestes Bild stammt gar nicht von Ihnen?

Herr Lehnartz, Ihre Fotos sind weltberühmt und hängen in Museen. Doch Ihr berühmtestes Bild stammt gar nicht von Ihnen?

Sie meinen die Aufnahme des DDR-Grenzsoldaten Conrad Schumann, der über den Stacheldraht springt?

Richtig.

Es gab einen Streit um dieses Bild. Jetzt darf ich nicht mehr sagen, dass es von mir ist.

Wie kam es dazu?

Ich rede nur ungern darüber, da ich Fehler gemacht habe. Damals war es üblich, dass aktuelle Fotos ohne Vermerk des Urhebers abgedruckt wurden. Pressefotografen gaben ihr Material von einer Sekunde zur anderen bei den Zeitungen ab, die sie am schnellsten drucken konnten. Danach sind wir zum nächsten Ort gefahren und haben uns um das Material tagelang nicht mehr gekümmert. Am 15. August 1961 stand an der Bernauer Straße ein Hamburger Kollege neben mir, Peter Leibing, der dieselbe Szene beo- bachtete. Er nahm den springenden Soldaten auch auf, doch bei meinen Negativen lässt sich dieser Augenblick nicht finden. Dabei kursierten zwanzig Jahre lang zwei Varianten. Eine, die den Flüchtling frontal zeigt, und eine andere, die den Sprung eher seitlich einfängt. Die ist verschollen.

Wurden Sie vom Mauerbau überrascht?

Am 13. August, als die SED ihren „antifaschistischen Schutzwall" um West-Berlin zu ziehen begann, war ich gar nicht in der Stadt, sondern auf dem Weg nach Südfrankreich, wo ich Urlaub machen wollte. Ich hatte bei meinen Eltern in Remscheid Station gemacht und stieg morgens um neun Uhr wieder ins Auto. Beim Starten des Motors sprang das Radio an und da hörte ich, was in Berlin los war. Noch in der Nacht fuhr ich, trotz Ermahnungen meiner Eltern, nach Berlin zurück. Bald kristallisierte sich heraus, dass an der Bernauer Straße eine besondere Situation vorlag. Denn dort standen die Wohnhäuser direkt auf der Grenze, dem späteren Mauerstreifen. Während die Hauseingänge und Fenster unten bereits zugemauert wurden, fingen die Leute an, aus den oberen Stockwerken zu springen. Als ich gegen vierzehn Uhr eintraf, fiel mir der Grenzsoldat, der wenig später in den Westen floh, sofort auf. Er nästelte mit bloßer Hand am Stacheldraht herum. Offenbar wollte er ausprobieren, ob er ihn herunterdrücken konnte.

Ahnten Sie, dass er seine Flucht vorbereitete?

Was mich neugierig machte, war, dass er immer wieder auf die andere Seite der Ruppiner Straße blickte, wo zwei Posten auf- und abpatroullierten. Er aber stand alleine da. Und immer wenn sie ihm den Rücken zukehrten, beschäftigte er sich intensiver mit dem Stacheldraht. Da wusste ich, dass er abhauen wollte.

Hatten Sie Angst um ihn?

Ich war nicht stehen geblieben, weil ich auf ein gutes Bild hoffte. Ich wollte dem Mann helfen, indem ich die anderen beiden Soldaten ablenkte. Die hatten nämlich die Eigenschaft wegzugucken, wenn sie merkten, dass man sie fotografierte. Das durfte ich allerdings dreißig Jahre nicht erzählen, sonst wäre ich als Fluchthelfer verhaftet worden.

Was haben Sie beim Mauerbau empfunden?

Wut. Im Westen herrschte kalter Zorn. Ich habe auch gegen diese Verhältnisse anfotografiert.

Sie waren bei der „Bild"-Zeitung, einem Blatt, das sich als Anwalt des kleinen Mannes versteht. Welche Rolle haben Sie damals für sich gesehen?

Ich war Polizei-Reporter, als ich zu „Bild" kam. Doch das war vorübergehend, um den Presse-Betrieb besser kennen zu lernen.

Ihre Bilder als Teil eines politischen Kampfes?

Nein. So habe ich meine Aufgabe nie gesehen. Es hat vielmehr mit Menschenwürde zu tun. Ich war der Auffassung, dass Menschen einzumauern, weil es andere anordnen, die Menschenrechte verletzt. Das ging nicht. Und ich wusste, dass so etwas in Mitteleuropa, wo die Menschen einen gewissen Grad an Kultur und Bildung erreicht hatten, nicht von Dauer sein würde. Irgendwann würden zwei Männer kommen, die miteinander reden können. Dann wäre der Spuk vorbei. Ich war mir bewusst, dass meine Bilder dem einzelnen Menschen nicht helfen konnten. Dass ich auch ein Regime nicht anklagen kann mit Fotos. Mein Credo war, was auch immer geschieht, würde ich dokumentieren. Ohnehin war ich der Meinung, dass im Winter ’61, wenn der Frost einsetzte, der Beton von alleine zusammenbrechen würde. Da habe ich mich getäuscht.

Der Mauerbau hat sie als Fotograf berühmt gemacht. Doch gleichzeitig muss diese Wand wie eine Blickblockade gewirkt haben?

Ich bin viel durch die urbanen Bezirke gewandert. Auf beiden Seiten. Mit der Kamera bin ich am liebsten Flaneur, trage sie unter der Jacke, damit sie nicht wegrutschen kann, und keiner sie sieht. Wenn ich Zeit hatte, bin ich durch Prenzlauer Berg, Kreuzberg, Wedding oder Mitte gestreift. Durch seine gewachsene Urbanität war Berlin trotz der politischen Teilung ja lange eine homogene Stadt. Ich war immer froh, wenn ich das Material sicher durch die Grenzkontrollen gebracht hatte. Obwohl man mich kannte, konnte die Freude, etwas Gutes fotografiert zu haben, verfrüht sein. Was ich aber nicht möchte, ist, dass Sie in mir nur den Grenz- und Mauerfotografen sehen. Die Zeit hat es mir bestimmt, dass mir die Mauer zum Thema wurde.

Sie sind ihr aber treu geblieben?

Mich interessierte, wie die Wunde dieser Stadt aussieht und wie sie fortwirkt.

Hat Sie das Narbengelände der deutschen Geschichte, als das man den Mauerstreifen bezeichnet, fasziniert?

Die Mauer hatte nichts Faszinierendes. Die konnte noch so schön bepinselt sein, mir kam nie das Bewusstsein abhanden, dass sie trennt, behindert und verletzt. Ich erinnere mich an eine Hochzeitsgesellschaft, die eines Tages an der Mauer stand: Die Frau stammte aus Schöneberg, ihr Partner aus Treptow. Das Aufgebot war bestellt, alles war fest arrangiert, als die Familie plötzlich nicht mehr rüber konnte. Sie standen in Brautkleid und Anzug auf der westlichen Seite auf einem Stuhl und winkten über den Stacheldraht, Fünfzig Meter hinter der Mauer standen die Angehörigen und winkten zurück.

Als der Todesstreifen immer perfekter wurde, konnte man nur noch die Leere festhalten?

Ja, aber denken Sie an die Sprengung der Versöhnungskirche. Es war seltsam, zuzuschauen, wie der Kirchturm plötzlich umkippte.

Sie sind dann in die Vereinigten Staaten gegangen. Ihr Buch „New York in the Sixties" gilt als Klassiker. War das eine Flucht?

Ich habe Großstädte immer geliebt. Ich bin überall in New York gewesen, auch in Harlem, als es wirklich gefährlich war, dort als Weißer mit einer Kamera herumzulaufen. Meistens bin ich sonntags dahin gefahren. Daher die vielen Kirchenbilder von Gospel-Messen und Aufnahmen von Hippies, die im Park Gitarre spielen.

Das war 1967. Man spürt, dass Ihnen die Blumenkinder suspekt waren.

Ich habe die 68er, als sie in Berlin zu demonstrieren begannen, aus der Perspektive der bürgerlichen Presse betrachtet: Was machen die, anstatt zu studieren? Laufen auf den Straßen herum, zerschlagen Schaufensterscheiben. Die 68er-Bewegung war eines der wichtigen Themen, die ich als Journalist begleitet habe, innerlich war ich gegen sie.

Ihr Kollege Michael Ruetz war dafür. Das sieht man seinen Fotos an.

Ja, aber Ruetz kam aus der Universität und hatte ganz andere Diskussionserfahrungen. Mich hat doch nicht gestört, dass Universitätsprofessoren im Talar auftraten, das fand ich schick. Aber die Studenten haben darin den Mief erkannt. Dann folgte die Hausbesetzer-Geschichte, die mich angewidert hat. Ich war gegen alles, was kaputt macht. Die Parole: „Macht kaputt, was euch kaputt macht!", konnte ich nicht nachvollziehen.

Spricht daraus Ihr früher Wunsch, Ingenieur zu werden?

Meine Familie wollte, dass ich Ingenieur werde. Wir besaßen eine Kaffeemühlen-Fabrik, die über 200 Jahre alt war. Doch als junger Mann bekam ich aus dem Familienbesitz eine Zeiss-Ikon-Nettar geschenkt. Außer mir, konnte niemand mit der Kamera umgehen. Schon während der Gymnasialzeit hatte ich sie grundsätzlich meine Kamera dabei. So habe ich Remscheid noch im Zustand totaler Zerstörung aufgenommen. Ich begriff bald, dass ich mit Fotos Geld verdienen konnte. Während der Mathematik-Lehrer komplizierte Formeln an die Tafel schrieb, habe ich die Resultate fotografiert und die Abzüge an meine Mitschüler verkauft. Das waren meine ersten Einnahmen – 20 Pfennig pro Abzug. Ich hatte das Gefühl, dass Kaffeemühlen mich auf Dauer nicht interessieren können. Wenn man neugierig ist, kann man Kaffeemühlen nicht lieben. Heute kaufe ich die alten Exemplare auf Flohmärkten, um zu sehen, was die Familie gebaut hat.

Ist Neugier der Grund, weshalb Sie sich der Reportage zugewandt haben, statt der Kunst?

Ich wollte als Fotograf vernünftig leben. Deshalb habe ich immer gemacht, was gebraucht wurde. Andererseits habe ich eine umfangreiche Dokumentation der Stadt aufgebaut, obwohl ich wusste, dass mir das keiner aus der Hand reißen würde. Aber in zwanzig oder dreißig Jahren besitzt die Dokumentation einen Wert an sich. Ich wusste, es verändert sich, es bleibt nicht so, wie es ist. Als Student wohnte ich bei einer Malerfamilie in Wannsee; Maler gelten als sehr gute Beobachter. Der alte Kemnitz erzählte begeistert von dem Berlin vergangener Tage: „Sie können es sich nicht vorstellen“, sagte er, „am Potsdamer Platz gab es nicht einen freien Quadratmeter, das war alles bebaut.“ Ich aber sah dort nur gähnende Leere. Noch heute bin ich auf jeder Grundsteinlegung, jedem Richtfest von markanten Bauten und begleite alles auch in stadträumlichem Maßstab. Berlin hatte das Schicksal, ausradiert worden zu sein und sein Gesicht verloren zu haben. Doch was jetzt aufgebaut wird, dürfte für die nächsten zwei- bis dreihundert Jahre das gültige Stadtbild sein.

Hatten Sie Vorbilder?

Natürlich. Cartier-Bresson. Sein berühmtestes Fotos – ich denke an den kleinen französischen Jungen, der mit einer Baguette-Stange in Richtung Kamera läuft – war, als es aufgenommen wurde, ohne jeden finanziellen Wert. Aber es war Bestandteil seines Archivs. Erst in der Summe wurde es ein Werk, das Beachtung verdient.

Wie viele Bilder umfasst ihr Archiv?

Etwa dreieinhalb Millionen Negative. 200 Bilder sind als Schwarz-Weiß-Postkarten erschienen. Es scheint, als könnte man Geschichte auf diesem Weg noch einmal selbst miterleben.

Hätten Sie sich träumen lassen, dass Geschichte mal zur Postkarte wird?

Nein, niemals.

Das Gespräch führten Stephanie Nannen und Kai Müller.

„Berlin 1957-2002“ von Klaus Lehnartz ist bis 30. August in der Fix Foto Galerie (Kurfürstendamm 142) zu sehen.

NAME

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false