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Kultur: "Ich kann Gewalt nicht ignorieren"

Bruno Stevens (43) betrieb in seiner belgischen Heimat ein renommiertes Tonstudio und arbeitete für Michael Nyman, Pink Floyd, Whitney Houston und David Bowie, bevor er 1998 Fotograf wurde. 2001 erhielt er für eine Tschetschenien-Reportage den World Press Award.

Bruno Stevens (43) betrieb in seiner belgischen Heimat ein renommiertes Tonstudio und arbeitete für Michael Nyman, Pink Floyd, Whitney Houston und David Bowie, bevor er 1998 Fotograf wurde. 2001 erhielt er für eine Tschetschenien-Reportage den World Press Award. Mit "Barrieren" widmet sich Stevens dem Nahost-Konflikt, den er im Südlibanon, auf den Golan-Höhen und im Westjordanland beobachtete.

Sie haben sich in der Vergangenheit als Fotograf mehrfach zwischen die Fronten des Nahost-Konflikts begeben. Sind Sie ein mutiger Mann, Herr Stevens?

Nein. Ich bin vielleicht nur etwas sensibel. Ich weiß, dass ich ein gewisses Risiko auf mich nehmen muss, um meinen Job zu erledigen, und ich akzeptiere das auch. Aber ich vermeide Situationen, in denen die Gefahr unberechenbar wird. Es gibt immer Leute, denen man vertrauen kann. Mit der Zeit lernt man, sie zu erkennen.

Aber Sie sind sich nie ganz sicher?

Sicherheit gibt es nicht. Erst kürzlich wurde in Ramallah ein italienischer Fotograf getötet, der genau so alt war wie ich. Doch im Gegensatz zu mir, der ich erst seit dreieinhalb Jahren in diesem Geschäft arbeite, war er ein sehr erfahrener Fotograf. Er tat auch nichts Falsches, sondern befolgte exakt die allgemein üblichen Regeln: Als er die Straße überqueren wollte, hob er seine Kameras mit beiden Händen gut sichtbar über den Kopf. Er war deutlich als Journalist zu erkennen. Doch die israelischen Soldaten eröffneten das Feuer. Sein Körper wurde von sechs Maschinengewehrkugeln getroffen.

Es hat ihn nicht geschützt, ein Fotoreporter zu sein? Sind Journalisten heute einer größeren Gefahr ausgesetzt?

Allein in den letzten zwei Jahren ist der Respekt der Kriegsparteien gegenüber der Presse rapide gesunken. Als die Intifada begann, gab es zwar Zwischenfälle, bei denen von Seiten der israelischen Armee auf Journalisten geschossen wurde - aber eher, um sie zu verschrecken. Mehr und mehr haben sich Vorfälle gehäuft, bei denen Schüsse gezielt abgegeben wurden und tödlich sein sollten. Fotos, wie ich sie von früheren Straßenkämpfen in Ramallah aufgenommen habe, kann man heute nicht mehr machen. Es werden nicht mehr nur Steine geworfen, es wird überall scharf geschossen.

Sie haben bis 1998 als Toningenieur mit weltberühmten Pop-Stars zusammengearbeitet und wurden dann Kriegsberichterstatter. Warum suchen Sie die Gefahr?

Ich suche die Gefahr nicht. Ich mag sie nicht einmal. Doch muss ich mit ihr leben, da ich sie auch nicht ignorieren kann. Wer es darauf anlegt, in Lebensgefahr zu geraten, muss verrückt sein. Eigentlich bin ich ein stiller Typ. Es wirkt nicht so, weil ich auch sehr viel rede. Aber ich bin ein introvertierter Mensch, und das letzte, was mich faszinieren würde, sind Gewaltexzesse. Obwohl meine Bilder sehr gewalttätige Episoden festhalten, bewahren sie doch eine gewisse Friedlichkeit. Die zahllosen Aufnahmen von Steine werfenden Palästinensern interessieren mich nicht. Dass Palästinenser Steine werfen können, weiß doch jeder. CNN zeigt es ja ununterbrochen. Aber warum Palästinenser das tun und was sie dabei empfinden, kann nur ein Fotograf zeigen, der ihre Nähe sucht. So habe ich ein Foto von einem Jungen gemacht, ein sehr simples Foto von einem 14-Jährigen auf der Straße von Bethlehem nach Hebron. Es entstand nach dem Begräbnis von jemandem, der von einem jüdischen Siedler erschossen worden war. Daraus hatte sich eine Straßenschlacht entwickelt. Das Bild entstand, als die meisten vor der anrückenden Armee geflohen waren und nur der Junge noch unschlüssig herumstand und auf irgendeine Antwort wartete. Er starrte in die Luft, sein Blick war nach Innen gekehrt. Wenn ich die Aufnahme ansehe, will ich sofort wissen, wie das Leben dieses Jungen ist, welche Zukunft er hat und welche Frage ihm durch den Kopf geht.

Sie wurden also Kriegsfotograf, weil CNN Sie gelangweilt hat?

Nein, es war meine Arbeit als Toningenieur, der ich nach über 20 Jahren nichts mehr abgewinnen konnte. Es ist uninteressant geworden, auf qualitative Standards zu achten, während das Musikgeschäft sie immer stärker ignoriert. Musiker pflegen ihre Songs heute auf einem Computer zusammenzubasteln. Ich wollte mich nicht zum button pusher degradieren lassen. Ich wollte etwas hinterlassen, ein Vermächtnis. Und da ich schon immer aufmerksam verfolgte, was in der Welt passiert, löste ich eines Tages ein Tickett nach Chiapas, Mexico, und machte meine erste Fotoreportage.

Binnen kürzester Zeit arbeiteten Sie bereits für "Stern", "New York Times", "Libération", "Paris Match" und "Le Monde". Für einen Anfänger ist das eine beeindruckende Liste.

Ich habe viel Glück gehabt. Tatsächlich habe ich ja nicht gelernt, wie man mit einer Kamera professionell umgeht. Ich versuche nur, extrem ehrlich zu sein. Ich reagiere auf das, was geschieht, und lasse mich von den Spannungen einfangen.

Sie lassen sich überwältigen?

Wenn man sich von Gewalt überwältigen lässt, ist man außen vor. Ein gutes Foto entspringt zu 40 Prozent dem Gefühl, 40 Prozent dem Kopf, 10 Prozent dem Auge, und der Rest ist Glück. Das furchtbarste Bild, das ich jemals gemacht habe, zeigt einen toten Jungen, dem ein Arzt seine Hand auf die Stirn legt. Diese Berührung dauerte nur eine Sekunde, aber es war so klar, dass ich sie fotografieren musste. Es führte kein Weg daran vorbei.

Viele Kriegsfotografen wie James Nachtwey haben Jahre darauf verwandt, sich auf den Einsatz in Krisenregionen vorzubereiten.

Ich bin jetzt 43 Jahre alt. Ich hätte nicht wie Nachtwey fünf Jahre in einer Provinzzeitung arbeiten können, um technisch besser zu werden. Wenn ich noch einmal 25 wäre und Fotograf werden wollte, würde ich vermutlich diesen Weg gehen. Aber als ich mich mit 39 Jahren dazu entschloss, habe ich gründlich darüber nachgedacht, worin meine Aufgabe bestehen und was für Fotos ich machen könnte. Insofern war meine Ausbildung eine mentale: Ich wusste, warum ich nach Palästina ging. Und ich wusste auch, dass ich mich von meiner Sichtweise nicht abbringen lassen durfte, um die Lage zu erfassen. Denn es gibt im Nahen Osten nicht die eine Wahrheit. Dort gibt es so viele Wahrheiten, wie Menschen in den Konflikt involviert sind. Ich schulde es beiden Seiten, aufrichtig mit ihrer Zwangslage umzugehen. Wobei vor allem die Palästinenser in meinen Augen Opfer dieses Konflikts sind.

Sie ergreifen Partei?

Nein, aber es ist ein ungleicher Kampf. Das palästinensiche Volk besteht heute zum überwiegenden Teil aus Jugendlichen. Viele von ihnen haben Palästina nie gesehen. Sie sind in Flüchtlingslagern im Libanon oder Jordanien aufgewachsen. Trotzdem sehnen sie sich nicht nach etwas, dessen Existenz von einem Gott abhängig wäre. Sie wissen, dass diese Heimat da ist und ihnen gehört. Einem Ausländer fallen in Palästina sofort die vielen Zäune, Schlagbäume und Absperrungen auf, und die Gebiete zwischen diesen Barrieren sind ein entvölkertes Niemandsland. Meiner Ansicht nach nutzt Israel diese desolate Lage für sich aus. Denn solange die palästinensische Infrastruktur abgeschnitten wird und brach liegt, kann es seine Siedlungspolitik fortsetzen. Der israelische Botschafter würde das gewiss bestreiten, doch weiß ich sehr genau, was ich sage.

Sie waren in Tschetschenien, Serbien, im Kosovo, Libanon...

und Afghanistan. Gerade komme ich aus Indien zurück, wo Ende Februar 800 Menschen - überwiegend Muslims - getötet wurden. Ich war der einzige ausländische Journalist, der sich für die Folgen dieser Massaker zwischen Hindus und Moslems interessierte.

Überall ist Ihnen Gewalt begegnet. Was haben diese Reisen Sie gelehrt?

Es gibt nur grau. Will sagen: Gut und Böse sind auf beide Seiten verteilt. Zudem habe ich gelernt, dass es immer eine dunklere Seite gibt. Ich habe keinen Konflikt kennen gelernt, der ausgeglichen gewesen wäre. Meist war eine Seite der anderen bei weitem überlegen und selten war sie im Recht. Schauen Sie nach Tschetschenien, wo es offensichtlich ist, dass die russische Armee im Unrecht ist, obgleich sie anfänglich provoziert wurde. Sie kommt davon, mit Tricks, und so geht es immer weiter.

Kann man dem Krieg als faszinierendem Schauspiel trotzdem erliegen?

Sie haben James Nachtwey erwähnt, den ich gut kenne - wir haben uns in Palästina häufig ein Auto geteilt und waren viel zusammen unterwegs. Er ist ein Veteran des Krieges, ein Star, der als Fotograf einfach Maßstäbe setzt. Obwohl er versucht hat, sich aus dem Geschäft zurückzuziehen, konnte er es nicht. Er wird von der Intensität des Krieges angezogen. Von anderen Kollegen weiß ich, dass sie den Adrenalin-Kick brauchen. Er funktioniert wie ein Schutzschild, um einen wach und aufmerksam zu machen.

Dachten sie schon mal: Das ist das Ende?

In Ramallah bin ich beinahe von einer Kugel getroffen worden. Ein Streifschuss. Im ersten Moment glaubte ich, dass mir jemand eine brennende Zigarrette an den Hals geschnippt hätte. Heute lache ich darüber. Aber ich weiß noch, wie in Tschetschenien die Bomben immer dichter einschlugen und ich nicht das Geringste dagegen tun konnte. Bei Schusswechseln weiß man in der Regel, woher Gefahr droht. Aber wenn man Düsenjäger Raketen abfeuern hört, fühlt man sich vollkommen machtlos.

Haben Sie nicht Angst, dass Ihre Erfahrungen eines Tages nichts mehr mit einem normalen Leben zu tun haben könnten?

Manchmal. Ich hoffe, dass es nicht schlimmer wird. Aber darin liegt zweifellos eine Gefahr.

Gibt es Erlebnisse, die Sie am Sinn ihrer Arbeit zweifeln lassen?

Nach zweieinhalb Jahren Palästina hatte ich es so satt, dass ich etwas machen wollte, was noch keiner versucht hat: Ich fotografierte 12 Opfer der Gewalt beider Seiten, gerade so, wie ich sie fand - in Kühlregalen, in Plastiksäcken, Blut überströmt, mit aufgerissenen Augen. Obwohl diese Toten wie gemalt aussehen und wir nichts von ihnen wissen, machen sie doch klar, dass sie ein eigenes Leben hatten. In Brüssel haben diese Bilder die Leute zu Tränen gerührt.

Sie haben sich in der Vergangenheit als Fotograf m

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