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Kultur: Ich lebe in Deutschland, aber sehe jünger aus

Zum Start des Poesiefestivals Berlin: Mit der Anthologie „Lyrik von jetzt“ stellt sich eine neue Dichtergeneration vor

Von Gregor Dotzauer

Was das für Leute sind, die Gedichte lesen. Und was das erst für Leute sein mögen, die welche schreiben. Selbst unter aufgeschlossenen Zeitgenossen kursieren da wilde Gerüchte. Das Schlimmste aber ist: Jedes einzelne hat seinen Grund. Denn auf einen scharfsinnigen, seines Handwerks und seiner Kunst bewussten Lyriker kommt eine Hundertschaft von Dilettanten: ein Gruselkabinett aus raunenden Glasseelchen, reimenden Weltverbesserern und pseudosprachkritischen Missionaren. Und unter den Ernstzunehmenden sind wiederum so viele zuhause in spezialistischen Diskursen, dass sogar poetologisch geschulte Leser nicht immer auf Anhieb unterscheiden können, was Komplexität ist und was Blenderei.

Wer für die zeitgenössische deutsche Lyrik trommeln will, für das Vergnügen, das man mit ihr haben kann (ohne ihren Anspruch zu leugnen), und für ihre Erkenntnisleistungen (ohne einem vordergründigen Verstehen das Wort zu reden), hat jedenfalls einiges zu tun. Und dass Björn Kuhligk und Jan Wagner in der von ihnen herausgegebenen, nagelneuen Anthologie „Lyrik von jetzt“ (DuMont, 422 Seiten, 14,90 €) gleich 74 Stimmen der jüngsten Generation mit jeweils vier Texten versammeln, wirkt wie Harakiri: Keine noch so lebendige Szene bringt eine solche Masse von Talenten hervor. Doch bevor man an dem Drittel herummäkelt, das aus dieser substanziell erstklassigen Anthologie eine durchwachsene macht, empfiehlt es sich, das Ganze literaturpolitisch zu betrachten.

Gab es in den letzten Jahren nicht das Märchen von der wundersamen Autorenvermehrung? Die Fräuleins und Knaben tanzten mit ihren Erzähldebüts nur so durch den Betrieb. Sie wehten durch Blütenstaubzimmer und inhalierten den Rauch von Diskothekennächten: mal empfindsam, mal habituell ironisch, mal extratough, mal Pop, mal nix – zumeist aber brav Geschichten fabrizierend, als wäre einfaches Storytelling nicht ein Recht, das man sich im Blick auf das Zerbröseln erzählerischer Gewissheiten erst verdienen müsste. Gemessen an dem, was da hochgejubelt und zum Teil schon wieder beerdigt wurde, ist die „Lyrik von jetzt“ ein Triumph: eine Bestandsaufnahme dessen, was die nach 1965 Geborenen an Stimmenvielfalt bieten. Ein Anspruch darauf, endlich in größerem Zusammenhang wahrgenommen zu werden, ein aus dem teilnehmenden Beobachten gewonnener Kanon – und der Beweis dafür, dass (manche Doppelbegabungen eingeschlossen) der Standard der Dichter denjenigen der Erzähler bei weitem übertrifft.

Es gehört eben mehr dazu, ein gutes Gedicht zu schreiben als manierliche Prosa – unter anderem ein Bewusstsein davon, was schon geschrieben worden ist. Ob dann in Widmungen, Motti und Versatzstücken Traditionen aufscheinen, ob sie manchmal vielleicht herbeigezwungen werden oder nur stillschweigende Reminiszenzen stattfinden: Die Ahnung, dass Texte immer andere Texte überschreiben, ist vorhanden. Bei Hendrik Rost taucht dann mit William Carlos Williams der Vater der modernen amerikanischen Poesie auf, bei Ron Winkler der Ostberliner Großpathetiker Volker Braun, und Crauss spaziert mit Rolf Dieter Brinkmann, dem früh verstorbenen Paten des deutschen Underground, durch Köln.

Augenfällige Generationsmerkmale zwischen den jungen Dichtern sind das Letzte, was man sich erwarten darf – außer man hält es schon für bemerkenswert, dass mit dem schriftstellerischen Gravitationszentrum Berlin die Erfahrung der Stadt eine wichtige Rolle spielt und bei all den verschiedenen Stimmlagen der ganz hohe Ton ebenso fehlt wie die Lust an der reinen Lautpoesie. Es ist deshalb rührend zu sehen, wie sich Gerhard Falkner in seinem Vorwort müht, Tendenzen herauszuarbeiten, „Texte, die im Ton oft einen sehr trockenen Ausklang der Postmoderne erkennen lassen, immer wieder auch ein lakonisches Parlando einschlagend, am Schluss häufig mit dem Pathos eines poetischen Abwinkens.“

Am Ende kommt er bei soziologischen Gemeinsamkeiten an, die ein für allemal mit Dichterklischees aufräumen sollen: „Da ging eine SMS oder eine Mail an die Leute raus, die man sich als Zuhörer wünschte, und die kamen dann auch.“ Und weiter: „Man hört Gedichte dort, wo man sonst vielleicht sowieso hingehen würde. Und anschließend tanzt man vielleicht und kennt die Leute, von denen die Musik stammt oder die sie auflegen.“ Daran stimmt vor allem, dass sich die Rezeptionsgewohnheiten verändert haben: Man performt Gedichte heute eher als noch vor ein paar Jahren – auch wenn das Performative außerhalb der Poetry-Slam-Szene, die unter anderem mit Bastian Boettcher und Boris Preckwitz vertreten ist, sicher nicht das prägende Element der meisten Texte ist.

Wenn morgen 30 der 74 „Lyriker von jetzt“ beim Poesiefestival Berlin auftreten, das die Literaturwerkstatt veranstaltet, ist das eine gute Gelegenheit, die These von der Mündlichkeit der jüngsten Poesie zu überprüfen. Und wenn am Sonntagnachmittag ein Symposion mit dem arg schicksalsträchtigen Titel „Quo vadis, Gedicht?“ nach lyrischen Grenzüberschreitungen hin zu Tanz, Theater und Musik fragt, die das Festival auch mehrfach vorführt, sollte man sich fragen, ob es nicht eher die benachbarten Künste sind, die nach semantischem Material gieren. Denn das Papier, auf dem die „Lyrik von jetzt“ steht, ist immer noch der für das Verständnis unverzichtbare Ausgangspunkt der hier versammelten Gedichte.

Die Herausgeber Björn Kuhligk, geboren 1975, und Jan Wagner, geboren 1971, sind selbst Lyriker mit eigenständigen Veröffentlichungen in renommierten Verlagen und in ihrem Bereich längst kleine Stars, was man sonst nur noch von Marcel Beyer oder dem gerade mit dem Kleist-Preis ausgezeichneten Albert Ostermaier behaupten kann. Das Gros der Beiträge aber sind für Leser, die nicht regelmäßig in den einschlägigen Zeitschriften (der „Edit“, den „Losen Blättern“ oder den „Intendenzen“) wildern gehen, Empfehlungen, sämtliche Annahmen über die Anämie der jüngsten deutschen Literatur über den Haufen zu werfen.

Zwischen Uwe Tellkamps weit in den Weltenraum ausgreifenden Metaphernketten und Volker Sielaffs schillernden Momentaufnahmen, zwischen Sabine Schos seltsam rabulistischen Erzählgedichten, die doch ganz von der Sprache voran getrieben werden, und Gerald Fiebigs popangetriebener Hochkultur gibt es zahllose Beweise dafür, dass man nicht mehr so schreiben kann wie Gottfried Benn, aber auch nicht so schreiben muss wie Robert Gernhardt – und dass Thomas Kling und Durs Grünbein, die Dioskuren der vorherigen Generation, Konkurrenz bekommen haben.

Die Übergänge zwischen der Lesebühnen-Kultur, wo einige der jüngsten Lyriker auftreten, und den Literaturhäusern, wo es einige hinzieht, sind dabei fließend – auch weil es gegenüber dem zweifellos vorhandenen Establishment keinen Underground mehr gibt. Und ob sich hinter dem Phänotyp des in baggy pants und mit stehenden Haaren anschlurfenden Dichters vielleicht nicht eine ältere Dame verbirgt, die zur Teestunde mit ausgestrecktem kleinen Finger an ein paar erbaulichen Versen nippt, ist nicht immer ausgemacht.

„Ich lebe in Deutschland aber / Viele sagen ich sehe jünger aus", heißt Kersten Flenters hinreißende Doppelzeile, mit der auf dem Umschlag geworben wird. Man kann das auch als Kommentar zu einigen weniger überzeugenden Beiträgern lesen.

Vor ziemlich genau einem Jahr hat einer der hier beteiligten Lyriker, Hauke Hückstädt, in der „Frankfurter Rundschau“ unter dem Titel „Gedichtblindheit“ eine Philippika gegen die kritischen „Stimmungstrainer des Gewerbes“ losgelassen. Die Lyrik, wetterte er, hätte beim Publikum längst einen anderen Stellenwert, wenn die Vermittler in den Medien nur neugieriger wären. Es war eine gefährliche Polemik. Sie schlug ein auf die Aktualitäts- und Starversessenheit der Medien und auf die Ignoranz der Literaturwissenschaft gegenüber der unmittelbaren Gegenwart, als fänden sich nicht hier wie dort Beispiele für die Kombination von Schnelligkeit und Urteilskraft. Aber er schrieb sie auch zu einer Zeit, als es die „Lyrik von jetzt“ noch nicht gab. Nach dieser Anthologie kann vor dem Reichtum der poetischen Szene niemand mehr die Augen verschließen.

Morgen Abend um 20 Uhr treten in der Backfabrik, Saarbrücker Straße 36-38, 30 der 74 Lyriker im Rahmen des Poesiefestivals Berlin auf. Anschließend Party mit Barbara Morgenstern. Infos: www.poesiefestival.org

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