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Kultur: Ich sehe was, was du jetzt träumst

Magischer Realismus auf die ungarische Art: „Bibliothèque Pascal“ von Szabolcs Hajdú

Ist dies ein sozialkritischer Film oder die Parodie auf einen sozialkritischen Film? Oder ist „Bibliothèque Pascal“ gar beides auf einmal? Wie nur in den besten Werken seines Genres scheint das Leben selbst in ihm Asyl genommen zu haben.

Eine schöne junge Frau (Orsolya Török-Illyés), eine Ungarin in Rumänien auf dem Jugendamt. Sie will das Sorgerecht für ihr kleines Kind zurück, das zur Adoption freigegeben werden soll. Der Fürsorgebeauftragte – sozialkritische Filme, die klingen wie dieses Wort, sind vergleichsweise verloren – verliest Mona das Protokoll der Sachlage, staatlicherseits gesehen. Wer spätestens an dieser Stelle zu wissen meint, das ihn „Bibliothèque Pascal“ nicht interessiert, sei um noch einen Satz Geduld gebeten.

Minderbegabte Regisseure würden kaum wagen, das Referat des Beamten in gefühlt voller Länge wiederzugeben, aber der Ungar Szabolcs Hajdú, 1972 in Debrecen geboren, hat keine Angst davor. Am Schluss die kurze Aufforderung an die Antragstellerin, aus ihrem Leben zu berichten. Könnte ein kleines Mädchen darin unterkommen?

Und nun stürzt der Film ab in ein knallbuntes, sommer- und liebeflirrendes Dasein. Nein, er stürzt nicht ab, er fliegt empor. In eine harte, ungeschützte, aber ganz dem Augenblick hingegebene Welt. Daher rührt ihr Zauber, manchmal.

Hier wird nichts erklärt, die Bilder in ihren immer wieder überraschenden Übergängen übernehmen die Rolle des Erzählers gleich mit. Da ist die Katastrophe eines kleinen Stadtfestes, das die Kapelle ausrichten wollte, zu der die schöne Mona zu gehören scheint. Näher hin wohl zum Saxofonisten, der noch während Monas Begrüßungsworten ein anderes Mädchen küssend verführt. Weshalb sie sich den erstbesten Mann greift – und die Vorstellung explodiert, noch bevor sie wirklich begonnen hat.

Mona zieht weiter, allein bis ans Meer. Mag sein, sie trägt Lumpen, aber viel besser kann man nicht angezogen sein. Es ist eine raue (Männer-)Welt, durch die sie geht; es sind raue Männerblicke, unter denen sie da bald am Strand liegt. Und plötzlich liegt neben ihr noch einer, nur mehr unterm Sand. Tarnung vor der Polizei, erklärt der Sand-Mann. Er nimmt sie als Geisel, für einen Abend, eine Nacht.

Die Begegnung zwischen Mona und Viorel (Andi Vasluianu) ist das Herz von „Bibliothèque Pascal“, voller Lakonie, latenter Gewalt und Poesie zugleich. Er ist ein Taugenichts, vielleicht sogar ein Verbrecher, und dennoch.

Auch Szabolcs Hajdú steht in der Tradition des jüngeren osteuropäischen Kinos, die man etwas unbeholfen „magischen Realismus“ nennen dürfte, und sie hat nicht erst mit Emir Kusturica begonnen. Dass da ein Strand ist noch unter dem schmutzigsten Pflaster, gehört zu seinen Grundüberzeugungen. Und dass noch die Schmeißfliegen und sich von der Wand rollende Tapeten in einer armseligen, verkommenen Strandhütte latent paradiesfähig sind, das auch. Zumindest in Viorels Traum. Und Mona, die fliehen will, als er schläft, kann diesen Traum sehen. Auch das ein Gabe: Man schläft, und andere sehen die eigenen Träume. Diese Gabe wird noch entscheidend werden.

Und dann der Morgen danach. So hat man ihn selten im Kino gesehen, so schwer bewaffnet, so tödlich leicht. Das Kind dieser Nacht heißt Viorica, und Mona wird sie nur ein paar Tage bei ihrer Wahrsager-Tante lassen wollen, um ihren Vater, den sie verachtet, auf eine Reise nach Deutschland zu begleiten. Und der verkauft seine eigene Tochter in die Prostitution. Monas Weg in die „Bibliothèque Pascal“ beginnt – ein Edelbordell, wo sie als Joan of Arc die Lust müder Männer mit Bildungshintergrund stillen soll.

Der Kontrast zu Monas Nacht mit Viorel ist sehr beabsichtigt und wohl auch ost-westlich geweitet: Eine Welt, in der alles zur Ware wird, verliert das Leben. Das will Hajdú sagen, und er ist Künstler genug, es leise zu tun.

Babylon Mitte, Brotfabrik, Kant-Kino

und Krokodil

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