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Kultur: Ich trage ein Jahrhundert im Koffer: Auf den Trümmern eines Staates

Berlin ist heute mein Zuhause. Ich bin vor zehn Jahren nicht ins Exil gegangen, weil ich dazu gezwungen wurde.

Berlin ist heute mein Zuhause. Ich bin vor zehn Jahren nicht ins Exil gegangen, weil ich dazu gezwungen wurde. Ich habe Belgrad, ich habe Serbien aus Protest gegen die damals herrschenden Machthaber verlassen. Wenn es Milosevic nicht gegeben hätte, hätte es keinen Krieg gegeben und nicht die Umstände, die mich nach Berlin geführt haben. Aber die Idee, mein Leben noch einmal zu verändern, lag auch in der Idee meines Lebens selbst. Ich habe meinen Wohnort verändert, wie ein Mensch von einem Jahrzehnt ins nächste hinüberwechselt.

Wäre ich jünger, dann würde das Wachstum bedeuten. So aber ist es auch die Rückkehr in eine Vorvergangenheit, in die zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts, meine liebste Periode. Denn Berlin ist für mich auch im metaphysischen Sinne ein richtungsweisende Stadt. Ich habe ein noch nicht ins Deutsche übersetztes Buch "Alter in Berlin" geschrieben, in Anlehnung an Walter Benjamins "Kindheit in Berlin". Darin stelle ich mir vor, Benjamin hätte es geschafft, über hundert Jahre hier zu leben - was würde er heute schreiben? Ich schlüpfe in seine Rolle, das ist nun meine Maske.

Manche fragen mich, ob ich unter den veränderten politischen Bedingungen nicht wieder nach Belgrad zurückkehren wolle. Für mich ist diese Vorstellung nicht real. Denn wohin würde ich zurückkehren? Ich habe dort nicht mehr jenen Raum, in dem es mich gab. Niemand kann in sein reales Gestern zurückkehren. Der einstige Vertriebene fühlt sich dann in der Stadt der eigenen Jugend wieder in die Fremde verbannt. Wenn ich heute an die Rückkehr von irgendwoher denke, dann träume ich von der Rückkehr in meine Ruhe vor zehn Jahren. Und diesen Traum kann ich auch in meinem Charlottenburger Zimmer träumen. Die Bedeutung liegt in den greifbaren Gegenständen. Und einige Teile Berlins rufen in mir mit einer geradezu unheimlichen, unwahrscheinlichen Ähnlichkeit Erinnerungen auch an bestimmte Gegenden von Belgrad wach. Das verschafft mir eine stille Genugtung.

In den letzten Jahren habe ich unter anderem ein umfangreiches Buch mit dem Titel "Das Land Null" geschrieben. Es erzählt von unserem Leben im "frühen Sozialismus", gleich nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Handlung spielt in einer kleinen Belgrader Straße, in der absolut nichts passiert. Was ich zeige, ist ein Leerraum. Ein leeres Leben.

Neuerdings schreibe ich auch Gedichte. Ich glaube, dass in jedem Menschen ein poetisches Gefühl existiert, so, wie es in jedem von uns Krebszellen gibt. Die Frage ist, ob die Poesie oder der Krebs ausbrechen wird oder nicht. Natürlich ist das Schreiben von Gedichten keine möglicherweise so tödliche Angelegenheit wie der Ausbruch von Krebs. Aber es gibt dieses Potenzial. Ich hätte ja anlässlich des Todes meines Freundes auch einen Brief an seine Frau schreiben können oder einen anderen Text. Aber es geschah mit mir, was sonst in der Biologie passiert: Eine Zelle platzte. Und jetzt entfaltet sich die Krankheit. Inzwischen habe ich schon das dritte Buch mit Gedichten beendet ...

An dem Geschehen im ehemaligen Jugoslawien nehme ich Anteil auf die Art eines älteren Herren mit gewissen moralischen Überzeugungen. Dabei bin ich mir bewusst, dass weder ich noch irgendein anderer Autor auf die Politik in Belgrad praktischen Einfluss hat. Ich scheue mich trotzdem nicht, kritisch Stellung zu nehmen. Aber das geschieht nie in Form von rein politischen Erklärungen, sondern stets auf literarische Weise. Meine Äußerungen finden auch durchaus Widerhall in Belgrad und sonst im Land - meist ist es ein negatives Echo. Ich gelte den Machhabern noch immer als eine Art Verräter. Nur für eine kleine Gruppe von Menschen ist das, was ich sage oder schreibe, von Wichtigkeit. Und das ist mir genug.

Zu Beginn dieses Jahrhunderts habe ich den Essay "Mein Koffer des 20. Jahrhunderts" geschrieben. Darin schildere ich die Dinge, die mir auf meiner Reise durch das letzte Jahrhundert wichtig waren. In meinem Koffer sind keine wissenschaftlichen und technischen Errungenschaften; vielmehr sind es zwei, drei Bücher, einige Gemälde, ein paar Fotografien. Meine Metapysik kehrt so immer zu etwas sehr Konkretem zurück. Im Kern bin ich wohl zuerst ein Dadaist, einer, der Collagen schafft, sich von diesem das und von jenem jenes nimmt und es übereinanderklebt. Ich schreibe jeden Morgen ungefähr vierzig Minuten, lege alle Blätter auf einen Stapel und montiere das Geschriebene später. Das Buch entsteht also erst in der Montage, etwa wie ein Film von Eisenstein. Aber vielleicht sollte ich über meine Methode besser schweigen. Jeder Autor hat ja die Passion, seine Leser zu täuschen. Vor allem dann, wenn er über sein Schreiben etwas verraten soll.

Der Text von Bora Cosic wurde

aufgezeichnet von Adelbert Reif.

Wer immer der Mann ist, der heute in der Charlottenburger Sybelstraße seinen 70. Geburtstag feiert: Er will nicht der Autor des Romans "Die Rolle meiner Familie in der Weltrevolution" sein (neu aufgelegt bei Suhrkamp für acht Euro). "Ich kenne den jungen Kerl nicht, der dieses Buch geschrieben hat", sagt Bora ¿Cosi¿c. Und in der Tat ist es nicht einfach, den um keine Pointe verlegenen, ins Groteske verliebten Schriftsteller dieser 1969 enstandenen Szenen aus dem Belgrad der vierziger Jahre mit dem melancholiezerfressenen Dichter zusammenzubringen, den man etwa in dem Lyrikband "Die Toten" oder der Erzählung "Die Zollerklärung" kennenlernen kann. Die Entfremdung hat für ihn und seine Frau, die Übersetzerin Olga Vlatkovic, einen Namen: Exil. Und wieviele verschiedene ¿Cosi¿cs es unter den rund 30 Verfassern von ¿Cosi¿c-Büchern sonst noch geben mag: Die Aufspaltung in mehrere Identitäten war ihm immer eine Lust. Der Abschied von Jugoslawien war erzwungen, und die Zuversicht, mit der er 1993 in einem "Selbstporträt" erklärte, er sitze "auf den Trümmern eines Staates, weder jung noch alt, weder fröhlich noch traurig" eine Zuversicht mit zusammengebissenen Zähnen.

So selbstverständlich, wie sich Cosic, 1932 in Zagreb geboren, der zentraleuropäischen Literatur zuwandte, verlief die Aufmerksamkeit in umgekehrter Richtung nie. Hausheilige seiner Bücher wie Marcel Proust, Thomas Mann oder Robert Musil verschafften ihm einen späten Nimbus, nachdem seine surrealistischen Väter Marko Risti¿c, Miroslav Krleza und Vasko Popa zumindest in Deutschland nie viel galten. Die kleine Ausstellung "Meine Avantgarden - Dada, Fluxus, PopArt ... aus Belgrad", die ihm seine langjährige Lektorin Katharina Raabe jetzt in der Galerie am Holtzendorffplatz ausrichtet (Heilbronner Str. 11, 10711 Berlin, 11.4.-5.5., Do-So, 17-19 Uhr) ist eine seltene Gelegenheit, sich mit Cosics künstlerischer Herkunft zu beschäftigen.

In den fünfziger Jahren, nach einem Studium der Philosophie, arbeitete er zunächst als Zeitschriftenredakteur und übersetzte die russischen Futuristen Vladimir Majakowski und Velimir Chlebnikow, bevor er 1956 mit "Haus der Diebe" als Romancier debütierte. Von all diesen Anfängen weiß man nur. Lesen hat man sie hierzulande nie können. Auch ¿Cosi¿cs deutsches Debüt aus dem Jahr 1969, die Satiren "Wie unsere Klaviere repariert wurden", waren nur ein erster Schritt. Ein Vierteljahrhundert folgte ihm kein zweiter - bis Rowohlt Berlin, flankiert vom "Schreibheft" (44/1994), ¿Cosi¿cs Rang als Erzähler seiner Generation mit Romanen wie "Interview am Zürichsee" und später "Bel Tempo" herausstellte. Berlin, das er als DAAD-Stipendiat kennenlernte, weiß inzwischen, was es an ihm hat: einen Meister der Überschreibungen und Übermalungen - und einen Sammler von objets trouvés, der sich an einer Freudschen Lesefrucht genauso freuen kann wie an einem Kinobild. dotz

Der Text von Bora Cosic wurdeaufgezeichne

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