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Kultur: Ich und Er

Undergrounddichter und Stasispitzel: Nach seiner Enttarnung war Sascha Anderson der bestgehasste Mann Berlins. Wie lebt man mit so einer Vergangenheit?

Er sieht älter aus als auf dem Autorenfoto, das der Dumont-Verlag vor drei Jahren ganzseitig in den Schutzumschlag seiner Autobiografie gedruckt hatte. Der Haaransatz ist bis auf den Hinterkopf hochgerutscht, das Gesicht ist noch schmaler geworden, fast hager. Sascha Anderson lehnt in hellgrauen Cordhosen an einer Arbeitsplatte, auf der gerade Kaffee durch einen Filter läuft, als er mitten im Satz plötzlich verstummt. Es wäre ihm lieber gewesen, wenn wir uns erst in 50 Jahren getroffen hätten, wird er später sagen. „Dann wäre ich so alt, wie Ernst Jünger geworden ist – und alles wäre gut.“ Doch zuerst sagt er lange gar nichts mehr.

Der berühmte Undergrounddichter der DDR, der heute als ehemaliger Stasispitzel vor allem berüchtigt ist, schaut durch seine dunkel gerahmte Hornbrille tief in sich hinein. Was er da sieht, ist schwer zu erraten, aber mit seiner gepflegten Altbauwohnung im Frankfurter Nordend kann es nichts zu tun haben. Durchs Küchenfenster schaut man auf eine Stadt, die mit sich zufrieden ist. Auf den ausgebauten Dachstühlen und Solarplatten der Nachbarhäuser pappt der Schnee, drinnen auf der Fensterbank vibrieren Kräuter in der Heizungsluft.

Andersons Freundin fragt, ob sie Milch warm machen soll, und verteilt Kekse auf einem Teller. Die Kekse habe Sascha heute morgen extra gekauft, sagt sie. Die Kekse? Anderson guckt, als habe man ihn aus dem Tiefschlaf geschreckt. Ach ja. Die seien wirklich die besten der Stadt. Er kaufe sie immer beim Konditor um die Ecke. Langsam verschwindet die Starre wieder aus seinem Gesicht. Er lächelt, gießt Kaffee in die Keramiktassen und fragt, ganz der charmante Gastgeber, was er sonst noch anbieten könne und worüber wir eigentlich reden wollen. Übers Leben? Über die Stasi? Über Literatur?

Es ist schwer, diesem Mann gegenüber eine Haltung zu entwickeln. Er hat in seinem Leben schon so viele Rollen gespielt, dass man nie genau weiß, wen man gerade vor sich hat. In Frankfurt wirkt er wie ein Emotions-Chamäleon, das von einer Sekunde in eine andere Stimmung und Tonlage wechselt.

„Wenn ich von Anderson fünf E-Mails bekomme, scheinen die von fünf verschiedenen Menschen zu stammen“, sagt Christoph Esser, ein junger Literaturwissenschaftler, der in Oxford über Andersons Lyrik promoviert. In der britischen Germanistik gilt er bis heute als einer der bedeutendsten Dichter der ehemaligen DDR. Dort plädiert man dafür, Andersons Leben und sein Werk getrennt voneinander zu behandeln. Dort hat auch niemand Verständnis dafür, dass seine Bücher, wenn überhaupt, in Deutschland nur noch antiquarisch zu haben sind. Hier hat Andersons schwer nachvollziehbare Geschichte auch seine Literatur diskreditiert. Nachdem Wolf Biermann ihn 1991 bei seiner Büchnerpreisrede in Darmstadt als Stasispitzel „Sascha Arschloch“ beschimpfte – und Jürgen Fuchs ihn kurz darauf im „Spiegel“ enttarnte, gilt er als notorisch. Textzeilen wie „Jeder Satellit hat einen Killersatelliten“ lesen sich nur noch wie Bekenntnisse eines Lügners. Aber das, sagt er, sei wirklich nicht das Problem. „Literarische Rehabilitation ist das letzte, was ich brauche.“

Bis heute hat sein Name die Qualität eines Reizwortes. Wie ein Dämon geistert er noch immer durch die Kneipen von Berlin Prenzlauer Berg. Man weiß dort, dass seine Freundin die Tochter eines bekannten Schriftstellers ist, und man glaubt zu wissen, dass auch der Sascha wieder ganz gut im Fett sitze. Sascha Anderson massiert sich das Kinn. „Ich habe eine halbe Stelle bei einer Bank.“ Seit knapp zwei Jahren organisiert er für das Kunstkontor der Investmentbank Ausstellungen und Künstlergespräche. Nebenher arbeitet er noch als freier Typograf für verschiedene Verlage. Aber so toll sei das nun auch wieder nicht. „Früher hatte ich wirklich mehr Geld.“ Und mehr Einfluss sowieso.

In den 80er Jahren hat er in Prenzlauer Berg das „ganz große Rad“ gedreht, wie der Literaturwissenschaftler Karl Corino sagt. Eine literarische Begabung, ein begnadeter Organisator, ein knallharter Macher, der die meisten Aktionen, über die er der Staatssicherheit berichtete, auch selbst organisiert hatte: Dichterlesungen in Privatwohnungen, oft sogar bei sich zu Hause, inoffizielle Buchprojekte, Ausstellungen, Happenings, Punkkonzerte und wüste Partys, bei denen kein Glas ganz blieb. Auch Anderson selbst kommt in seinen Berichten vor, als labiler Charakter mit psychischen Problemen. „Manchmal hatte ich das Gefühl, dass ich dafür bezahlt werde, mich selbst zu überwachen“, schreibt er 1986, kurz vor seinem Umzug nach West-Berlin, an die für ihn zuständige Abteilung beim MfS.

Kann man so eine Geschichte aufarbeiten oder irgendwann sogar hinter sich lassen? Und was bleibt dann noch von der eigenen Vergangenheit, wenn überhaupt etwas bleibt? Anderson schaut auf die Glut seiner Zigarette, die in einem Aschenbecher verglimmt. Um seine Füße scharwenzelt eine dicke rotbraune Katze herum. Die sei so rothaarig, weil die Mutter sich „zu viel bei den Füchsen herumgetrieben“ habe. Anderson macht Konversation. Sein melancholischer Blick schaut weiterhin auf die Zigarettenglut. Er sucht nach einer Antwort auf eine Frage, die heute niemand gestellt hat, und die doch im Raum steht. „Natürlich bin ich schuldig, da gibt es nichts zu diskutieren.“ Es sei auch gar nichts wieder gut zu machen, sagt er leise und emotionslos. Es klingt, als spreche er über einen anderen, der gerade nicht mit am Tisch sitzt. Einer, der sich damit abgefunden hat, mit der Schuld zu leben und deshalb auch bei niemandem öffentlich um Verzeihung bitten musste. „Reue“ hat dieser andere Sascha Anderson bei der Buchpremiere seiner Autobiografie vor drei Jahren im „Kaffee Burger“ gesagt, sei etwas sehr Privates. „Ich stell mich doch nicht vor 400 Leute und sage: Tut mir Leid.“ Das wäre der falsche Rahmen.

Doch auch das Buch, das Sascha Anderson über sich geschrieben hat, war nicht gerade eine Selbstanklage und auch keine Beichte. Es war nicht einmal ein Geständnis. Es las sich wie ein teilweise poetisches, teilweise vollkommen unverständliches Selbstgespräch zwischen dem Autor, „der ich glaubte zu sein“, und dem Täter, der er eben auch war. Die Opfer kommen nur am Rande vor, auch Andersons eigene Geschichte verschwindet immer wieder im lyrischen Gewölk.

Es hagelte zum Teil hämische Kritiken Anderson hat sie alle gezählt: Auf 103 Verrisse kam ein Lob. Er betreibe Aufklärung als Verdunkelung, lautete der häufigste Vorwurf. Der Verlag hat das Buch dann ziemlich schnell wieder aus dem Programm gestrichen. „Aus deren Sicht ist es vollkommen misslungen.“ Und aus seiner Sicht? Würde er es heute anders schreiben? Sascha Anderson zündet sich noch eine Zigarette an, bläst den Rauch an die Decke. Um länger auf der Backlist zu bleiben? Er schüttelt den Kopf. „Ich habe genau das geschrieben, was ich schreiben wollte. Ich war noch nie so ehrlich zu mir selbst.“ Ein therapeutisches Projekt, an dem die Öffentlichkeit teilnehmen konnte? „Damals schon nicht mehr.“ Die Therapie hatte er schon hinter sich, als er wieder mit dem Schreiben begann. Und sicher, er wisse, dass es nicht schön ist, „den dreckigen Hund in sich zu waschen“. „Aber ich bin jetzt langsam wirklich Meister im Saubermachen.“ Die biografischen Eckdaten seines schnellen, schnell außer Kontrolle geratenen Lebens muss man sich dennoch vor allem zwischen den Zeilen zusammenkratzen.

1953 in Weimar geboren, der Vater Schauspieler und nie daheim, die Mutter Architektin und meistens mit sich selbst beschäftigt. Der Junge ist renitent, er lügt und stiehlt wie ein Rabe. Geht in Weimar zehn Klassen zur Schule, bricht in Dresden eine Lehre als Schriftsetzer ab. Er hat viele Liebschaften, aus denen zwei Kinder hervorgehen, aber das Private ist ihm lästig, alles Künstlerische zieht ihn an. Auf einem Basar verkauft er selbst gesetzte Biermann-Verse, und wird prompt zur Rechenschaft gezogen. Danach erste Berichte für die Staatssicherheit, 1979 ein Jahr Haft wegen Scheckbetrugs. Er ist weichgeklopft. Die Sehnsucht, irgendwo dazuzugehören, ohne sich zu binden, wird immer größer.

„Wer mir vertrauen würde, dem würde auch ich vertrauen“, schreibt er über sein „Einstellungsgespräch“ beim MfS. „Ich kann wirklich nicht sagen, dass ich ein Opfer bin“, sagt er in Frankfurt. „Mit 20 wollte ich Top-Spion werden, am liebsten beim KGB.“ Russland, die Heimat seiner Großmutter hat ihn immer fasziniert. Stattdessen wurde er ein Dichter, der sein Talent erst erkannte, als er den Pakt mit dem Teufel schon geschlossen hatte.

„Ich als Begleiter meiner selbst“ ist fortan seine schizophrene Rolle. Er zieht von Dresden nach Prenzlauer Berg und landet aus Neigung, aber auch mit Auftrag im Zentrum der dortigen Subkultur. Die Zeit rast dahin wie ein Videoclip im Fast-Forward-Modus. Immer neue Freunde, immer neue Liebschaften, immer neue Westkontakte. 1986 zieht er in den Westen, schreibt von dort weiterhin seine Berichte. Die Wende soll er in Berlin-Schöneberg vor dem Fernseher verfolgt haben. Ralf Kerbach, einer seiner ebenfalls übergesiedelten Freunde und heute Kunstprofessor in Dresden, erinnert sich, dass Sascha Anderson beim Anblick der offenen Mauer laut „Scheiße“ gerufen habe. Anderson selbst weiß davon nichts mehr.

Für ihn kam die Wende erst 1991 mit Wolf Biermanns spektakulärer Rede. Er leugnete so lange, bis die Aktenlage eindeutig war: Zwei dicke Leitz-Ordner aus dem Intimleben der Boheme, die zeigen, dass dem wachsamen Auge des IM Fritz Müller, so lautete Andersons Deckname zu seiner Berliner Zeit, kein kritisches Wort, kein aufmüpfiger Augenaufschlag, keine prekäre Liebschaft entgangen war. „Vor allem der private Aspekt war ja so furchtbar“, sagt die Künstlerin Cornelia Schleime heute. Erst als die Autobiografie herauskam, hat sie ihm einen offenen Brief geschrieben, in dem sie vermutet, Anderson habe seit den 70er Jahren „die zu Bespitzelnden zu seinen Freunden gemacht“. In der „FAZ“ wirkte das sehr wütend und sehr kategorisch. Am Telefon klingt Schleime eher traurig. „Wenn er gleich zu mir gekommen wäre und sich bekannt hätte, dann hätte ich ihm verziehen.“ Anderson sei ihr bester Freund gewesen, fast wie ein Bruder.

„Die Sache mit Conny“ sei tragisch, findet auch Anderson. Aber er verstehe sie, er verstehe auch all die anderen, die sich öffentlich von ihm distanziert haben. Er weiß, dass Leute wie er den gesamten kulturellen Untergrund in Misskredit haben. Nachdem die Akten aufgetaucht waren, war auch der Mythos von der selbst bestimmten Alternativkultur dahin. „Spätdadaistische Gartenzwerge im Schrebergarten der Stasi“, hat Wolf Biermann sie genannt. Der Schriftsteller Hans-Christoph Buch sprach von der „After-Garde“ des Prenzlauer Berg. „Und Anderson haben wir diesen Scheiß-Stempel zu verdanken, Stasiprodukte zu sein“, schimpft Ralf Kerbach in einem Interview mit der Zeitschrift „Horch und Guck“.

1993, als die Wogen besonders hoch schlugen, weigerten sich Uwe Kolbe und Herta Müller mit dem Stipendiaten Sascha Anderson in der Villa Massimo in Rom zu wohnen. Er suchte sich daraufhin ein Privatzimmer in der Stadt und blieb ein Jahr. 1995 hat das Berliner Kammergericht das Verfahren gegen ihn wegen „geheimdienstlicher Agententätigkeit für die DDR“ gegen ein Bußgeld von 3000 Mark eingestellt. Ein Freispruch, der ihn nicht freisprach. Die nächsten Jahre war er auf der Flucht vor sich selbst. „Es gibt keinen selbstgewissen Grund dafür, dass ich seit 1996 wieder im Prenzlauer Berg lebe. Ich denke, es ist der Versuch, mich der möglichen Reaktion auf eine Geschichte auszusetzen, die ich mir selbst erzähle“, lautet der letzte Satz seiner Autobiografie. Aber das war nur die halbe Wahrheit.

Anderson besaß in dem Viertel um den Helmholtzplatz zwar noch eine kleine Wohnung, gelebt hat er seit Mitte der 90er Jahre in Frankfurt bei seiner Freundin. Wobei leben für die erste Zeit wohl das falsche Wort ist. „Ich habe mir einen grauen Anzug angezogen und gehofft, dass nichts passiert.“ Weiter als bis zur nächsten Kreuzung sei er selten gekommen. Die Innenstadt, das Theater und die Museen schienen unendlich weit weg zu sein. Anderson benahm sich wie ein Emigrant, der die Hoffnung auf Rückkehr noch nicht ganz aufgegeben hatte. Doch da, wo er herkam, gab es nur noch verbrannte Erde.

Dennoch hat er oft darüber nachgedacht, nach Berlin zurückzukehren. Aber es kam immer etwas dazwischen. Zuletzt der Job im Kunstkontor der Investmentbank, für das er auch wieder zu Künstlern aus Jena, Dresden und Berlin fahren muss. „Sie wissen wer ich bin, und das ist auch gut so“, sagt Anderson. Ein paar ihrer Werke stehen, noch ungerahmt, auf dem Fußboden seines Arbeitszimmers. An der Wand darüber hängt wie eine Trophäe ein Bild von A.R. Penck.

Penck, der vor Anderson in den Westen gegangen und dort auch schnell zu großem Ruhm gekommen war, hat in den 80er Jahren viele von Andersons Gedichten illustriert. In seiner West-Berliner Zeit arbeitete Anderson als sein Privatsekretär. Doch irgendwann ist der Kontakt abgebrochen. Penck ging nach Irland und Anderson ging nach Rom und blieb danach noch ein paar Jahre in der Versenkung. Dass er sich heute normal durch Frankfurt bewege, liege wohl auch an der neuen Arbeit. Anderson hat angefangen, seine Bücher auszupacken, er muss sich bloß noch ein paar Regale bauen.

Auf dem Tisch vor seiner roten Couch steht eine der alten Schreibmaschinen, die er sammelt, auf dem Sekretär ein Laptop. Daran macht er die Setzerei für die Verlage. Die Schreibmaschine ist für literarische Arbeiten reserviert. Dass er nach dem Desaster mit der Autobiografie so schnell keinen Verlag mehr finden wird, ist ihm egal. Er habe nie für Geld geschrieben. Heute gibt ihm die Bank, was ihm früher die Stasi gab: finanzielle Unabhängigkeit. Auch ansonsten scheint vieles wieder wie früher. „Sascha macht eigentlich, was er immer gemacht hat“, glaubt Bertram Hesse, ein alter Berliner Bekannter, der ihm kürzlich in Jena auf der Straße begegnet ist. „Mich hat das irgendwie gefreut.“ Austellungsorganisation, Künstlerbetreuung, nebenher schreiben. Anderson will sogar wieder einen Sponsor für eine Kunstbuch-Edition gefunden haben. Das Prinzip Originaldrucke und kleine Auflagen ist auch fast wie zu DDR-Zeiten.

Hat ihm seine Geschichte am Ende vielleicht sogar genutzt, weil Berüchtigtsein auch eine Form des Berühmtseins ist? Glaube ich nicht, sagt Anderson. Die Verlage, für die er die Schriftsätze und Bucheinbände macht, legten Wert darauf, dass er unter Pseudonym für sie arbeite. „Es wäre nicht gut, wenn man Ihren Namen mit uns in Verbindung brächte“, heiße es, und er müsse das akzeptieren. „Wer einmal unter falschem Namen gearbeitet hat, muss immer unter falschem Namen arbeiten.“ Das sei die Rechnung für sein Doppelleben, er sagt nicht Rache oder Buße. Er will nicht in moralischen Kategorien über sich selbst sprechen. Das ist nicht sein Stil.

Stefanie Flamm

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