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Kultur: Ich weiß, dass ich nicht weiß

So haben schon unzählige Filme angefangen: Ein Mann wacht in einem Hotelzimmer auf und weiß nicht, wie er hierher gekommen ist. Irgend etwas Schreckliches muss passiert sein.

So haben schon unzählige Filme angefangen: Ein Mann wacht in einem Hotelzimmer auf und weiß nicht, wie er hierher gekommen ist. Irgend etwas Schreckliches muss passiert sein. Kratzer im Gesicht und Erinnerungsfetzen deuten darauf hin, aber ohne fremde Hilfe kann der Mann seine Vergangenheit nicht erforschen. Solche Filme sind in der Regel spannend, nur kranken sie an ihrem Déjà-vu-Effekt. Sind alle guten Ideen schon aufgebraucht?

Dem Autor und Regisseur Christopher Nolan ist mit "Memento" thematisch und erzähltechnisch ein Geniestreich gelungen: total verwirrend, aber nicht verworren. Selbst wenn man als Zuschauer den Überblick verliert, verliert man nicht das Vertrauen in den Erzähler. Der Protagonist Leonard Shelby (Guy Pearce) verdankt seinen Blackout keinem Alkoholexzess oder einem Schlag auf den Kopf. Er leidet an einer Krankheit, die "arterieller stufenweiser Gedächtnisverlust" genannt wird. Leonard verfügt über ein extremes Kurzzeitgedächtnis: Es besteht etwa zehn Minuten lang. Die Ursache der Krankheit glaubt er zu kennen. Seine Frau wurde vergewaltigt und ermordet, das hat ihn aus der Bahn geworfen. Glaubt er jedenfalls.

Leonard ist weder dumm noch hilflos und macht das Beste aus seiner Situation. Er notiert sich alles, was ihm widerfährt, und macht dazu Fotos. Wenn ihn eine fremde Frau (Carrie-Anne Moss) aufsucht und sich als Natalie vorstellt, schaut er in seinen Unterlagen nach. Dort findet er ein Polaroid-Foto, beschriftet mit "Natalie". Die Frau auf dem Bild ist mit der Frau, die vor ihm steht, identisch, er kann ihr also vertrauen. Glaubt er jedenfalls.

Leonard glaubt alles, was er fotografiert und notiert hat. Nolans Film, mehr als nur ein perfekt gemachter Psychothriller, ist auch ein Traktat über den trügerischen Charakter unserer Wahrnehmung. Einmal warnt Natalie Leonard vor einem Mann namens Teddy (Joe Pantoliano), der ein falscher Freund und der Mörder seiner Frau sei. Teddy wiederum warnt Leonard vor Natalie. Es steht Aussage gegen Aussage. Leonard müsste beiden misstrauen. Tut er aber nicht. Vielleicht, weil Teddy auf eine etwas schleimige Art nett, Natalie dagegen eine hartgesottene Frau ist, die sich bei niemandem anbiedert.

Die Situation, in der Leonard sich befindet, wird dadurch noch verrückter, dass Nolan von hinten nach vorn erzählt. Es gibt Benutzer von Videorecordern, die sich Filme so ansehen, wie Nolan ihn konstruiert hat. Statt von Anfang an zu gucken, spulen sie sich zu den letzten zehn Minuten vor, dann gehen sie rückwärts zehn Minuten und immer in Schüben so weiter. "Memento" ist eine exzessive Hommage an die Rückblende. Pausenlos stellt Nolan die Frage: Was geschah vorher? Einmal besucht Natalie Leonard mit aufgeschlagener Lippe und bittet ihn, den Mann zu bestrafen, der ihr das angetan hat. Wir sind ganz auf Natalies Seite. Doch später erfahren wir, was dem vorausging: Natalie hat Leonard provoziert, sie zu schlagen, wohl wissend, dass er sich daran nicht mehr erinnern kann.

Immerhin Filmkritiker werden sich gut mit Leonard identifizieren können. Wie oft kommt es vor, dass man sich während einer Vorführung Notizen macht, die hinterher keinen Sinn mehr ergeben. "Roter Ball kullert von links durchs Bild" oder einfach nur "Zoom", ohne Angabe worauf. Man kann ein "control freak" sein und trotzdem die Kontrolle verlieren. Das passiert etwa dem eiskalten Versicherungsdetektiv Leonard, der einem Kunden das Krankengeld für exakt das Leiden verweigert, das ihn schließlich selbst plagt.

Herausragend ist Nolans Film nicht zuletzt deshalb, weil er seine originellen Ideen mit viel Atmosphäre versieht. So gerät ihm "Memento" am Ende zum traurig-melancholischen Hymus auf einen Zombie, der nur noch den Tod seiner Frau rächen will. Adererseits gibt es auch einiges zu lachen. Der Mann von der Rezeption zum Beispiel nutzt Leonards Gedächtnisschwund aus und vermietet ihm drei verschiedene Zimmer. Oder während einer Verfolgungsjagd überlegt Leonard: "Warum verfolge ich diesen Mann eigentlich? Verdammt, der verfolgt ja mich!" Oder er findet in seinem Kleiderschrank einen geknebelten, blutenden Fremden. "Habe ich Sie so zugerichtet?" fragt er ihn. Hmm, stammelt das Opfer.

Wer jagt wen - davon handelte bereits Nolans Debüt "Following" (1998), das unlängst auf dem BerlinBetaFilmFest lief. Dort geht ein Mann dem Hobby nach, Passanten zu verfolgen. Schließlich stellt sich heraus, dass die scheinbar Verfolgten ihn manipuliert haben. "Following" war ein interessantes Gesellenstück; "Memento" ist nichts Geringeres als ein Meisterwerk. Viele clevere Filme, etwa die demnächst anlaufenden "Mulholland Drive" von David Lynch oder Alejandro Amenábars "The Others", haben eine Auflösung, die man nicht vorher verraten darf. Das Schöne an "Memento" ist, dass es nichts zu verraten gibt.

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