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Kultur: Ich will nicht ewig leben

Zu Gast in Berlin: Der Ungar László Darvasi stellt seine „Chinesischen Geschichten“ vor

Jahrhunderte von Invasionen, Annexionen, Teilungen und Aufständen haben in Ungarn zu den Wahrheiten der Literatur geführt. Ob Märchen, Parabeln oder Satiren: Die Personalunion des Dichters mit dem Geschichtsschreiber und Philosophen ermöglicht neue Erzählformen. Wo das Gedächtnis versagt und die Dokumente fehlen, ist der Poet am Zuge; er stellt Fragen ohne Hoffnung auf Antwort. Das Reden in Gleichnissen tritt an die Stelle einer Prosa, die sich dem politischen Klartext verpflichtet weiß. István Örkénys „Minutennovellen“ und Miklós Mészölys „Verzaubertes Feuerwehrorchester“ sind klassische Exempel dafür.

An dieser Tradition hält auch László Darvasi, Jahrgang 1962, fest: In seinem Roman „Die Legende von Tränengauklern" (1999) bilden das Ungarn des 17. Jahrhunderts, die Türkenkriege und der Freiheitskampf der Kurutzen nur die Folie einer Erzählung, die in den „geheimnisvollen Bereich“ von „Tod, Vergänglichkeit, Hölle und Himmel“ führt. Auch die „Hundejäger von Loyang“, Darvasis „chinesische Geschichten“ aus dem Jahr 2002, haben einen historischen Hintergrund: Da wird von Kaisern und Dienern, von Selbstmördern und Friedhofshändlern berichtet; das „Geheimnis des ewigen Lebens“ und der „Anfang des Bauens“ sind Gegenstand von Märchen und Parabeln, deren Chronologie den Herrschaftsbereich einer Vielzahl von Dynastien umfasst. Doch wäre es müßig, den Erzähler auf Fakten hin zu überprüfen. An Lebensläufen ist Darvasi nur mäßig interessiert; ihm kommt es auf Charaktere, Stimmungen und Zustände an.

Darvasis Chronist macht auf die Wahrheit aufmerksam, indem er sie versteckt; dabei greift er auf die ältesten Literaturformen zurück. Wo die Mitteilung der Wahrheit prekäre Folgen haben könnte, erscheint sie getarnt. Schon Wieland schätzte am Märchen die Kunst, „gewisse Wahrheiten, die sich nicht gern ohne Schleier zeigen, in die Gesellschaft einzuführen“. Wer in Gleichnissen redet, will aber auch die Dauer im Wechsel festhalten; er macht die Wiederkehr des Gleichen plausibel. Was in Darvasis Geschichten auf den ersten Blick als eine Flucht aus der Gegenwart erscheint, entpuppt sich als eine Begegnung mit zeitgenössischen Wissenschaftstheorien, die an der Erfüllung uralter Wunschträume wie des Unsterblichkeitsglaubens arbeiten.

Darvasi unterschlägt nicht die Skepsis der Forscher, die am Sinn solcher Experimente zweifeln. Was sagt Meister Lu, der mit der Entwicklung eines zielführenden Elixiers beauftragt ist? „Ich könnte es an mir selbst ausprobieren, aber ich tue es nicht. Ich will nicht ewig leben, Peng. Und weißt du, warum? Ich liebe das Leben. Was sollte ich damit anfangen, wenn es nicht vergeht?“

Wo der Leser die Logik einer Geschichte nicht zu erkennen vermag, ist er gut beraten, am Verstand der handelnden Personen, nicht aber an der Kunst des Erzählers zu zweifeln. Wie sagte Darvasi in seinem Roman „Legende von den Tränengauklern“? „Ja, ist es denn nicht einerlei, welche Richtung die Geschichten nehmen?“ Das trifft erst recht auf seine Geschichten zu.

Die „wohl durchdachte Ziellosigkeit“, die Miklos Mészöly seinen eigenen Romanen und Erzählungen attestiert hat, herrscht auch bei László Darvasi. Wer dessen Prinzip der Prinzipienlosigkeit als einen Teil seines poetologischen Credos akzeptiert, wird auch nicht zögern, das Attribut „chinesisch“ mit „ungarisch“ zu vertauschen. In Ungarn, so Darvasi, sei „die Ratio ihre eigene Karikatur. In diesem Land ist nicht das Warum der Dinge von Interesse, sondern das Mögliche, das wiederum niemals Wirklichkeit werden kann.“

Lob der Enge

Als literarischer Minimalist knüpft der Parabeldichter Darvasi an die chinesische Tradition der Kurzgeschichte an, die „kleine, scheinbar unbedeutende Äußerungen aus dem Volke“ widerspiegelt. „Selbst in ihnen“, so wird von Konfuzius überliefert, „kommen manchmal Stimmungen und Ansichten zum Vorschein, die für das Schicksal des Landes ausschlaggebend sein können.“ Im Fragment erschließt sich das Ganze. Darvasis Lob der Enge hat einen weiten Horizont. Wer in seinen „chinesischen Geschichten“ auch eine Hommage an das „Tao Te King“ des Laotse und das „lün-yu“ des Konfuzius vermutet, geht insofern nicht fehl, als es sich bei beiden Werken der chinesischen Philosophen um Zuschreibungen handelt, die als fiktiv gelten müssen oder sich auf Aufzeichnungen der Schüler stützen. Diese „Forschungslage“ kommt einem Autor zupass, für den nichts verbürgt, aber alles möglich ist. So enden Darvasis Geschichten mit einem Stoßseufzer: „Was kann man dann überhaupt wissen? Dass jeder einmal erzählen muss.“

László Darvasi: Die Hundejäger von Loyang. Aus d. Ungar. von Heinrich Eisterer. Suhrkamp, Frankfurt/M., 2003. 168 S., 22,90 €. Heute um 20 Uhr liest Darvasi im Berliner Literaturhaus. György Dalos und Sibylle Lewitscharoff stellen ihn vor.

Hansjörg Graf

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