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Kultur: Ihr guten Kinder, ihr armen Sünder Was Gerold Becker mit Goethe verbindet

Keine falsche Pietät gegenüber Gerold Becker. Sein Schweigen gegenüber den Vorwürfen, als Leiter der Odenwaldschule ihm anvertraute Jungen missbraucht zu haben, hat er nicht nur mit ins Grab genommen.

Von Gregor Dotzauer

Keine falsche Pietät gegenüber Gerold Becker. Sein Schweigen gegenüber den Vorwürfen, als Leiter der Odenwaldschule ihm anvertraute Jungen missbraucht zu haben, hat er nicht nur mit ins Grab genommen. Von dort hallt es, mit Goethes Autorität ausgestattet, nun auch noch spöttisch zurück. Der Todesanzeige, die, unterzeichnet von der Familie und seinem Lebensgefährten Hartmut von Hentig, drei Tage nach seinem Tod in der „Süddeutschen Zeitung“ am 10. Juli erschien, sind die Verse beigegeben: „Die Feinde, die bedrohen dich, / Das mehrt von Tag zu Tage sich; / Wie dir doch gar nicht graut!“/ Das seh’ ich alles unbewegt, / Sie zerren an der Schlangenhaut, / Die längst ich abgelegt. / Und ist die nächste reif genug, / Abstreif’ ich die sogleich, / Und wandle neubelebt und jung / Im frischen Götterreich.

Das kleine textkritische Problem besteht darin, dass bei Goethe die Schlangenhaut nicht „längst“, sondern „jüngst“ abgelegt wird – eine nicht unerhebliche Konjektur, die ein ehemaliger Schüler des reformpädagogischen Internats in der „FAS“ noch einmal empört moniert.

Wenn es sich um eine bewusste Fälschung handeln sollte und nicht nur um einen wohlmeinenden bis verblendeten Lesefehler, so ist sie denkbar plump. Man muss gar nicht Goethes Schlangenkenntnisse bemühen, um zu erkennen, dass das ersetzte Wort im Verskontext ein Fremdkörper ist. Ansonsten hat das Zitat durchaus seinen Sinn – und eine Stoßrichtung, die Goethe vertraut war.

Die fraglichen Zeilen gehören zur fünften Gruppe der „Zahmen Xenien“ und erschienen erstmals 1827 in der Ausgabe von Goethes Gedichten „letzter Hand“. Welch ein Schwerenöter ihr Verfasser war, wussten damals nur die wenigsten – auch wenn Goethe, anders als Becker, wohl nie unter fremde Bettdecken griff. Welch eitles, auf Meinungshoheit bedachtes, durchaus missgünstiges und jedenfalls ganz und gar unheiliges Genie er war, dürften die Zeitgenossen indes mitbekommen haben: Goethe hatte bis zuletzt ein Talent für schmerzhaften Spott.

Den „Zahmen Xenien“, die er ab 1815 verfasste, gingen die berühmteren „Xenien“ voraus, die er zusammen mit Friedrich Schiller schrieb und im „Musen-Almanach für das Jahr 1797“ veröffentlichte, ohne dass man immer wusste, welches der epigrammatischen Distichen von wem stammte. Die oft auf Personen gemünzten, satirischen Zweizeiler bildeten die Grundlage für den Xenienstreit, in dessen Verlauf die Angegriffenen, zumeist Kritiker von Schillers „Horen“-Projekt, zum Teil erbost zurückdichteten.

Während in den „Xenien“ neben der strengen Form noch der jugendliche Zorn regiert, alle literarischen Widersacher vom Platz fegen zu wollen, rumort in den nur vorgeblich zahmen „Zahmen Xenien“ eine Altersrenitenz, die den Spagat zwischen Abgeklärtheit, Sehnsucht nach der verlorenen Jugend und wütenden Rundumschlägen kaum hinbekommt.

Was Gerold Becker und seine Freunde betrifft, so haben sie beim Zitieren aus diesem auch formal aus dem Ruder laufenden mixtum compositum, das sicher nicht zu den Höhepunkten deutscher Dichtung zählt, weniger ein falsches Wort erwischt als vielmehr ein falsches Gedicht. Gleich die nächste „Zahme Xenie“ lautet nämlich: Ihr guten Kinder, / Ihr armen Sünder, / Zupft mir am Mantel – / Lasst nur den Handel! / Ich werde wallen / Und lass ihn fallen; / Wer ihn erwischet, / Der ist erfrischet. Sieht man da nicht gleich den netten Onkel vor sich, der einem süß lächelnd sein Gemächt entgegenstreckt? Gregor Dotzauer

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