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Kultur: „Ihr guten Leute und schlechten Musikanten!“

Brauchen große Künstler das moralische Zwielicht? Versuch über einen alten Disput / Von Peter von Matt

Wer an der Literatur arbeitet, tritt unausweichlich in die biografische Falle. Das ist so selbstverständlich, dass es gar nicht mehr beachtet wird. Man operiert mit dem Widerspruch, als gäbe es diesen nicht. Dabei ist er einer jener Zirkel, die zu Recht als des Teufels bezeichnet werden. Worin besteht die biografische Falle? Die Person eines Autors interessiert mich nur dann, wenn er ein großartiges Buch geschrieben hat. Schreibt einer miserable Romane, kann er daneben das aufregendste Leben führen, kann sich für Leprakranke in Afrika aufopfern oder eine Berliner Zelle der sizilianischen Mafia leiten, als Künstler bleibt er mir gleichgültig, und als Heiligen oder Verbrecher überlasse ich ihn gerne den entsprechenden Spalten der Tagespresse.

Schreibt einer aber herrliche Romane, mit denen ich wochenlang in einer geistigen Liebesaffäre lebe, dann will ich wissen, wer er ist, wie er lebt und wo er herkommt. Ich möchte etwas von seiner Kindheit erfahren und von seinem erotischen Tun und Treiben. Wie hat er sich bisher durch die Welt geschlagen, wovon lebt er, und wie gut lebt er, und welche Marotten erzählt man sich von ihm? Das alles und noch viel mehr will ich in Erfahrung bringen, und ob der Betreffende mein Zeitgenosse ist oder seit ein paar Jahrhunderten tot, ergibt da keinen Unterschied. Das liegt alles auf der Hand. Wo liegt die biografische Falle? Sie liegt darin, dass die Qualität des Buches mich zur Suche nach der Person des Autors zwingt, die Person des Autors aber wiederum die Qualität des Buches verändert. Diese wirkt sich erneut auf mein Bild vom Autor aus, und das so veränderte Autorbild wieder auf das Buch. Und falls ich den Autor als Menschen mit der Zeit abscheulich finde, erscheint mir auch das Werk immer ärgerlicher.

Diese biografische Falle darf nicht mit dem hermeneutischen Zirkel verwechselt werden. Der hermeneutische Zirkel spielt zwischen dem lesenden Kopf und dem Kunstwerk. Die biografische Falle aber spielt zwischen dem Kunstwerk und meinem Bild vom Künstler. Sie ist also wesentlich ein außerkünstlerisches Ereignis, obwohl sie unsere Erfahrung von Kunst weithin regiert.

Ich bin ein Literaturwissenschaftler, der vom einzelnen Satz oft mehr fasziniert ist als vom ganzen Werk. Auch habe ich die Erfahrung gemacht, dass einzelne Sätze sich aus ihrem Kontext davonmachen und eigene Wege einschlagen können. Gelegentlich stirbt sogar das Werk ab, der einzelne Satz aber lebt in Glorie weiter, ohne dass man überhaupt noch weiß, wo er herkommt. Das reizt dann den professionellen Beobachter. Eine kleine Untersuchung dieser Art möchte ich vorführen an einem Beispiel, das auf untergründige Weise mit der biografischen Falle zu tun hat. Es handelt sich um einen kurzen Ausruf; er ist sprichwörtlich; er lautet: „Ihr guten Leute und schlechten Musikanten!“

Sein Wortlaut hat sich im Verlauf der Zeit verändert. In der zitierten Form wird die Brisanz der Wendung sofort klar. Sie stellt eine Opposition auf, in der eine Unterstellung steckt. Die additive Verbindung zweier Aussagen: „Ihr seid gute Leute und ihr seid schlechte Musikanten“, drängt sich uns durch die pointierte Knappheit als kausale Verbindung auf: „Ihr seid gute Leute, deshalb seid ihr schlechte Musikanten!“ Damit aber liegt die Behauptung in der Luft, ein guter Mensch könne nie ein großer Künstler sein. Zu einem großen Künstler brauche es einen Einschlag von – ja was nun? – Schuftigkeit? Gaunerei? Niedertracht? Verbrecherseele sogar? – auf jeden Fall ein moralisches Zwielicht.

Dagegen könnte man zunächst einwenden, die Grußformel: „Ihr guten Leute und schlechten Musikanten!“ unterstelle keineswegs, dass jeder gute Künstler irgendwo Dreck am Stecken haben müsse. Denn indem auch die Kontrastformel darin stecke: „Ihr schlechten Leute und guten Musikanten!“, besage sie höchstens, dass auch ein bedenklicher Charakter glänzende Kunst hervorbringen könne. Das aber wird man doch wohl noch sagen dürfen. Darf man es wirklich? Gibt es nicht gerade hier schwere Einwände?

Es gibt sie in der Tat. Paul Celan schreibt in einem Brief an Hans Bender vom 18.5.1960: „Nur wahre Hände schreiben wahre Gedichte.“ Das hat Grundsatzcharakter. Kann man über einen solchen Satz aus solchem Mund einfach hinweggehen? Überdies steht diese Aussage in einer langen Tradition. Ben Jonson, der Freund und Konkurrent Shakespeares, schreibt in der Einleitung zu seinem Stück „Volpone“ (1607): „Würden die Menschen das Amt und die Aufgabe eines Dichters unvoreingenommen betrachten, so kämen sie ohne weiteres zu dem Schluss, dass man unmöglich ein guter Dichter sein kann, ohne zuvor ein guter Mensch zu sein.“ Und in einer tragischen Affäre der deutschen Literaturkritik hat Friedrich Schiller den armen Gottfried August Bürger genau mit diesem Argument künstlerisch und existenziell gebrochen. „Alles, was der Dichter uns geben kann“, schrieb Schiller, „ist seine Individualität. Diese muss es also wert sein, vor Welt und Nachwelt ausgestellt zu werden. Diese seine Individualität so sehr als möglich zu veredeln, ist sein erstes und wichtigstes Geschäft.“ Und dann lässt er keinen Zweifel daran aufkommen, dass die „Individualität“ Bürgers, dessen Schuldenmacherei und skandalöse Weiberwirtschaft allgemein bekannt war, es keineswegs wert sei, vor Welt und Nachwelt ausgestellt zu werden. Deshalb taugten auch seine Gedichte nichts. Schlechter Mensch gleich schlechter Musikant, so lautet das brutale Axiom hinter Schillers idealistischen Verklausulierungen.

Dieses Prinzip wäre großartig, gäbe es da nicht die biografische Falle. Großartig nämlich wäre es, wenn man daraus die logisch einwandfreie Folgerung ziehen könnte: Wer ein herrliches Gedicht geschrieben, ist zwingend auch ein guter Mensch. Mag er daneben lügen und betrügen, was das Zeug hält, mag er sein Leben in Bordellen und Zuchthäusern verbringen, die Freunde verraten und die eigene Großmutter verkaufen – er hat dieses herrliche Gedicht geschrieben, und also ist er ein guter Mensch. Diese Schlussfolgerung, die auf Anhieb das Gegenteil des Satzes zu sein scheint, dass nur ein guter Mensch ein guter Dichter sein könne, ist in Wahrheit dessen Konsequenz. Der Unterschied besteht nur darin, dass der eine Satz: „Nur ein guter Mensch kann ein guter Dichter sein“, vom Menschen auf das Werk schließt, während der andere – „Hier ist ein guter Dichter, also ist er ein guter Mensch“ – vom Werk auf den Menschen schließt. Im Schluss vom Menschen auf das Werk aber steckt die biografische Falle.

Wo kommt der Satz her? Seine ursprüngliche Form steht 1804 in Brentanos Lustspiel „Ponce de Leon“, einem erfolglosen Stück, welches aber zur Inspiration wurde für Büchners zauberhafte Komödie „Leonce und Lena“. Valerio, eine Harlekinfigur, hat den Auftrag, eine Musikantengruppe aufzutreiben und sie versteckt in Bereitschaft zu halten. Er findet im Dorf einige musikalische Dilettanten und gibt ihrem Leiter die Anweisung: „Diese schlechten Musikanten und guten Leute also werden sich unter Eurer Anführung im Walde versammeln …“ Das ist schon alles. Wir alle würden darüber hinweglesen. Doch da gab es nun zu Berlin einen Mann, der selbst ein Künstler war, Autor und Musiker zugleich, und dem fuhr die Stelle in die Knochen. Er erkannte ihre subversive Potenz, und als er sie später zitierte, hatte sie in seinem Kopf die Form angenommen, in der sie berühmt wurde. Sie war zur Anrede geworden, also dramatisiert: „Ihr guten Leute und schlechten Musikanten!“ Jener Mann war E. T. A. Hoffmann. Er erwähnt den Ausruf zum ersten Mal in der Schrift: „Seltsame Leiden eines Theater-Direktors“ von 1818 und später noch einmal im Roman um den Kapellmeister Kreisler. Damit war der Slogan in perfektem Design lanciert.

Im Kreisler-Roman leitet das Zitat die Rede des Kapellmeisters Kreisler über die Künstlerliebe ein. Das geschieht unmittelbar nach dem Bericht über einen Maler, der in mörderischen Wahnsinn verfiel, weil er die Frau, die ihn zu seinen größten Werken begeisterte, leibhaftig lieben und umarmen wollte. Er wurde darüber zum Tier, das man in Ketten legen musste. Kreisler entwickelt auf diesem Hintergrund seine radikale Theorie vom Künstler, dessen Kunst von der Liebe zwar entzündet wird, der aber mitsamt seiner Kunst zugrunde geht, wenn er diese Liebe leibhaftig leben will. Hoffmann schafft damit die Grundlage für die Tradition der tragischen Künstlerromane, welche die deutsche Literatur bis weit ins 20. Jahrhundert hinein prägen sollte. „Musikanten“ und „gute Leute“ werden dabei zu schroffen Gegenbegriffen. Und indem er so, nach seinen eigenen Worten, „alles Menschenvolk“ in „zwei verschiedene Haufen“ teilt, macht er kein Hehl aus seiner Verachtung der „guten Leute“, ihrer Art zu fühlen, zu lieben und die Kunst zu konsumieren wie eine warme Suppe. Gut sind die „guten Leute“ nur deshalb, weil sie keine Ahnung haben; die „Musikanten“ aber leben am Rand von Wahnsinn und Verbrechen, und sie zerstören die Frauen, die sich in sie verlieben.

Heinrich Heine war dem Ausruf nicht weniger zugetan als vor ihm E. T. A. Hoffmann und nach ihm Theodor Fontane. Wenn er ihn vorbrachte, verwies er zwar auf Brentano, zitierte indessen die Fassung Hoffmanns. Diese galt inzwischen als das Original. Besonders wichtig wird die Wendung in Heines Vorrede zum „Atta Troll“, einer Versdichtung aus der Zeit, als er wegen seines Börne-Buchs in Deutschland wütend attackiert wurde. Börne stellte man als Heiligen, Heine aber als elenden Lumpen hin. Im Verlauf dieser Polemik setzte sich jenes Schlagwort durch, das mehr als ein Jahrhundert lang alle Debatten um Heine einfärben sollte: Er sei ein Talent, aber kein Charakter. Und tatsächlich greift Heine im Zusammenhang mit genau dieser Diffamierung seiner sittlichen Person auf unser Zitat zurück. Er schreibt: „Die scheelsüchtige Impotenz hatte endlich ihre große Waffe gefunden gegen die Übermüten des Genius; sie fand nämlich die Antithese von Talent und Charakter. Es war fast persönlich schmeichelhaft für die große Menge, wenn sie behaupten hörte: die braven Leute seien freilich in der Regel sehr schlechte Musikanten, dafür jedoch seien die guten Musikanten gewöhnlich nichts weniger als brave Leute, die Bravheit aber sei in der Welt die Hauptsache, nicht die Musik.“

In der Heine-Polemik, welche die deutsche Kulturgeschichte zwei Jahrhunderte lang gezeichnet hat, schneiden sich beide Traditionslinien. Die Regel, wonach ein schlechter Mensch kein gutes Gedicht schreiben könne, blieb darin ebenso virulent wie die Regel, wonach gute Menschen schlechte Musikanten seien. Jene hundertfach wiederholte Formel, Heine sei ein Talent, aber kein Charakter, enthält, genau gesehen, beide Maximen zugleich. Das Wort Talent steht hier nämlich im unausgesprochenen Gegensatz zum Wort Genie. Ein Talent kann man zwar sein, auch wenn man ein charakterloser Kerl ist (also ein guter Musikant, aber schlechter Mensch), ein Genie aber, so die stumme Unterstellung, ein Genie wäre mit Charakterlosigkeit denn doch nicht vereinbar (also kann nur ein guter Mensch ein genialer Dichter sein).

Schreiben wirklich nur wahre Hände wahre Gedichte? Es gibt darauf keine Antwort, es gibt nur den fortdauernden Disput. So wurde die Differenz von Talent und Charakter eines Tages neu inszeniert als die Differenz zwischen dem Literaten und dem Dichter, wobei auch hier dem Dichter das Genie zugesprochen wurde, dem Literaten aber die Oberflächlichkeit. Diese Opposition überlagerte sich zusätzlich mit jener zwischen Zivilisation und Kultur. In Deutschland musste der Literat daher bald mit weiteren Attributen versehen werden, einerseits mit Zivilisation, was ihn zum Zivilisationsliteraten machte, andererseits mit Asphalt, was ihn zum Asphaltliteraten stempelte. Letzteres hatte allerdings insofern verheerende Folgen, als der Gegensatz zu Asphalt unausweichlich ländlich-vegetativ war, die Kuhweide oder die Ackerscholle, so dass am Ende dem bleichen Asphaltliteraten der rotbackige Schollendichter gegenüberstand.

Nun ist aber auch das Stichwort des Zivilisationsliteraten gefallen. Und da der heutige Anlass im Zeichen Heinrich Manns steht, kann wohl von der Tatsache nicht abgesehen werden, dass der Begriff „Zivilisationsliterat“ eigens für ihn, Heinrich Mann, geschaffen wurde, als offene Insultation von Seiten seines Bruders, Thomas Mann. In dessen Schrift „Betrachtungen eines Unpolitischen“, einem geradezu fieberhaft politischen Buch, gerät der „Zivilisationsliterat“ zur leibhaftigen Verkörperung alles dessen, was nicht Kultur ist, sondern Zivilisation, nicht deutsch, sondern französisch, nicht tief, sondern oberflächlich, nicht Seele, sondern Intellekt, nicht Krieg, sondern Pazifismus, nicht heroisch, sondern human, nicht national, sondern international, nicht monarchistisch, sondern demokratisch …

Die Vendetta wurde von Thomas Mann losgetreten, weil Heinrich Mann gegen die Kriegsbegeisterung von 1914 war und sich weigerte, von seiner republikanisch-liberalen Haltung und seiner Verehrung der französischen Kultur abzurücken. Thomas las Heinrichs Essay über Zola von 1915 als persönlichen Angriff und geriet darüber in einen Furor, der drei Jahre dauerte und zu einem Buch von 611 Seiten führte, den „Betrachtungen eines Unpolitischen“. Nie hat ein reaktionärer Kopf besser geschrieben. Ein guter Musikant ohne Zweifel. Man zieht den Hut und knirscht mit den Zähnen.

Wir geben heute dem Heinrich Mann des Zola-Essays in umfassendem Sinne Recht und dem Thomas Mann der „Betrachtungen“ ebenso entschieden Unrecht, aber dass beide gerade auch in diesen Texten große Künstler sind, daran ist nicht zu rütteln. Und wenn wir die Entwicklung Thomas Manns im Anschluss an die „Betrachtungen“ genau studieren, dann dämmert uns, dass die Raserei gegen den Bruder zur Voraussetzung wurde für seinen größten Roman, „Der Zauberberg“. Genau dieses Duell nämlich inszenierte er dort als Komödie der politischen Philosophie. Die homerische Redeschlacht zwischen den gleichermaßen zwielichtigen Figuren Naphta und Settembrini wurde zu einem hinreißenden Schauspiel, in dessen Hintergrund sich der Autor selbst schattenhaft abzeichnete – nun aber nicht mehr als präfaschistischer Berserker, sondern wie ein ironischer Gott, der seine Marionetten spielen lässt. Der Weg zum Kunstwerk ist offenbar verschlungen. Er führt durch Höhlen und Sümpfe, über Grate und Gletscherfelder, durch fauliges Dunkel und grelles Licht. Landkarten gibt es dafür keine. Und am Ende weiß der Künstler selbst nicht mehr, wo er sich überall herumgetrieben hat.

Heinrich Manns politische Klarsicht und stilistische Brillanz hatte Thomas Mann in seinen dreijährigen Raptus versetzt. Aus diesen wüsten Krämpfen erwuchs zuletzt nicht nur der unvergleichliche Roman, sondern auch die Versöhnung der Brüder, Versöhnung so sehr, dass die beiden schließlich Seite an Seite antreten konnten im Kampf für die Humanität und Demokratie in Deutschland.

Der Schweizer Literaturwissenschaftler Peter von Matt , 1937 in Luzern geboren, gehört zu den angesehensten Germanisten unserer Zeit. Mit der hier leicht

gekürzt dokumentierten Rede bedankte er sich am Sonntag in der Berliner Akademie der Künste für den HeinrichMann-Preis . Matt, ein Schüler von Emil Staiger, schreibe „Literatur, wenn er über Literatur schreibt“, heißt es in der Begründung der Jury. Es sei kaum zu sagen, was eindrucksvoller sei: seine „stupende Gelehrsamkeit, die Genauigkeit der literarischen Wahrnehmung, die Tiefe des Verstehens oder der Reichtum an thematischen Bezügen, die er sichtbar zu machen versteht“.

Im Münchner Hanser Verlag hat er zahlreiche Bücher veröffentlicht, zuletzt Die Intrige – Theorie und Praxis der Hinterlist (Tsp. vom

1. April). Von Matts Ein-

lassungen zur „biogra-

fischen Falle“ lassen sich auch als Kommentar zum aktuellen Streit um Volker Weidermanns Literaturgeschichte „Lichtjahre“ lesen.

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