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Gegangen: Die Grande Dame der Psychoanalyse, Margarete Mitscherlich. Sie starb im Alter von 94 Jahren.

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Im Alter von 94 Jahren: Margarete Mitscherlich gestorben

Bis zuletzt schrieb sie Bücher und hielt Vorträge. Bei Magazinen und Sendern war sie eine gefragte Gesprächspartnerin. Jetzt ist Margarete Mitscherlich im Alter von 94 Jahren gestorben. Mit ihrem Mann Alexander hatte sie eine Lebens- und Denkgemeinschaft gebildet. Sie schrieben „Die Unfähigkeit zu trauern“. Berühmt war sie auch als Feministin.

Sie war die Grande Dame der Psychoanalyse, Vorkämpferin des Feminismus und bis zuletzt geistig junge Analytikerin der Gegenwart: Margarete Mitscherlich ist am 12. Juni im Alter von 94 Jahren in einer Klinik in Frankfurt am Main gestorben.

Noch im Herbst 2010 hatte die Jahrhundertfrau ein Buch mit dem Titel „Die Radikalität des Alters“ geschrieben.

Sie konnte nicht mehr in ihr geliebtes Ferienhaus am Lago Maggiore reisen und benötigte einen Rollwagen, Verbitterung blieb ihr aber immer ein Fremdwort. „Wenn Sie anfangen, eine unfreundliche alte Hexe zu werden, dann wird das Leben schwierig“, sagte sie in einem „FAZ“-Interview. Sie bewahrte sich ihre Fröhlichkeit und Selbstironie, den Gehwagen nannte sie: „eine peinliche Karre“.

Mit ihrem Leben sei sie rückblickend „ganz zufrieden“, sagte Mitscherlich zu ihrem 90. Geburtstag. Bis zuletzt hielt sie noch gelegentlich psychoanalytische Sitzungen ab, las zwei Tageszeitungen und den „Spiegel“ und schrieb ganz selbstverständlich E-Mails.

Als Tochter eines dänischen Arztes und einer deutschen Lehrerin kam Margarete Nielsen 1917 in Gaasten (Dänemark) zur Welt. Ihr Abitur machte sie während der Nazi-Diktatur in Flensburg. Nach dem Medizin-Studium in München und Heidelberg arbeitete sie vorübergehend in der Schweiz, wo sie Alexander Mitscherlich kennenlernte. Da war der Psychoanalytiker (1908-1982) in zweiter Ehe verheiratet und schon vierfacher Vater.

Den 1949 geborenen gemeinsamen Sohn Matthias vertraute sie zeitweise ihrer Mutter an, weil sie ihn wegen der eigenen Berufstätigkeit dort besser versorgt glaubte. Das brachte ihr später viel Kritik ein. 1955 heiratete das Paar aber doch und begründete eine jahrzehntelange Liebes- und Arbeitsbeziehung, eine Lebens- und Denkgemeinschaft.

Ihre 45 gemeinsamen Jahre mit Alexander seien nicht immer harmonisch gewesen, erzählte sie bei einer ihrer letzten Lesungen in Frankfurt im ausverkauften Literaturhaus. „Wir haben uns oft gestritten.“ Die Rivalität zwischen den beiden Wissenschaftlern sei „nicht das Problem gewesen, die war lustvoll. Aber die Eifersucht war vorhanden. Er hat mir auch vorgeschlagen, mir einen anderen zu suchen. Aber wenn ich das dann tat, war der Teufel los.“

Gemeinsam arbeiteten sie zunächst in einer psychosomatischen Klinik in Heidelberg, später am Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt, wo Margarete Mitscherlich zeitweise die psychoanalytische Ausbildung leitete. Gemeinsam schrieben sie für das Nachkriegsdeutschland prägende Bücher wie „Die Unfähigkeit zu trauern“ (1967) über die kollektiven Verdrängungsmechanismen der Gesellschaft, einen intellektuellen Schlüsseltext der Studentenbewegung. Später wandte sich Margarete Mitscherlich der Frauenbewegung zu. In ihrem bedeutendsten eigenen Buch, „Die friedfertige Frau“ (1985), legte sie dar, dass Frauen nicht von Natur aus weniger aggressiv sind, sondern ihr vermeintlich ausgleichendes Wesen nur erlernt haben. „Ich habe immer vertreten, dass Frauen sich nicht nur gegen Männer, sondern auch gegen sich selbst durchsetzen müssen“, sagte die Alice-Schwarzer-Freundin. Zur Lila-Latzhosen-Fraktion gehörte die elegante Dame nie, die zu ihrer Vorliebe für teure Kosmetika stand.

Ihre Definition von Emanzipation könnte ebenso für Männer gelten: „Eine emanzipierte Frau ist in der Lage, sich von vorgefundenen Werten und Vorstellungen über ihre Rolle zu distanzieren.“ Psychoanalyse und Feminismus hatten für sie viel miteinander zu tun. „Freud hat als Erster anerkannt, dass Frauen sexuelle Wesen sind.“ Freuds Lehren haben ihrer Meinung nach auch die Gesellschaft verändert: „Erst durch seine Arbeit haben wir die Möglichkeit (...) die Motive, die unserem Verhalten sowie die unbewussten Konflikte, die unseren Symptomen zu Grunde liegen, hervorzuholen“ - und durch das analytische Gespräch zu verändern. Sie verehrte Freud als „Begründer der modernen Seelenkunde“. Und auf ihrem Sofa in ihrer Dachgeschosswohnung im Frankfurter Westend, in der sie schon mit ihrem Mann Alexander wohnte, saß: eine Sigmund-Freud-Plüschpuppe. Auch mit 90 kommentierte sie noch süffisant Gegenwartsereignisse.

Im „Spiegel“ las sie Öko-Gutmenschen die Leviten („Man empfindet Schuld und dann agiert man im Dienst der guten Sache mit lustfeindlicher Hysterie.“) und in der „Brigitte“ erklärte sie Schönheits-Operationen für „neurotisch“ („Im Spiegel ein fremdes Gesicht anzuschauen: Das würde mir noch viel mehr Angst machen.“).

Ihre Bilanz nach fast einem Jahrhundert wirkte bereits zu ihrem 90. Geburtstag fast altersmilde: Aus dem faschistischen Deutschland ihrer Kindheit sei eine stabile Demokratie geworden, eine einstmals männerdominierte Gesellschaft habe immerhin eine Kanzlerin an die Spitze gewählt und die Grundbegriffe der Psychoanalyse kenne inzwischen jeder Taxifahrer. Und über sich selbst sagte sie einmal mit einem Augenzwinkern: „Meine Thesen stimmen immer irgendwo auch, sind aber mit einer großen Lust an der Provokation verbunden.“ (dpa)

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