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Kultur: Im Innern des Schneekristalls

Der Fremdkörperkünstler: Carsten Nicolai in der Berliner Nationalgalerie und der Frankfurter Schirn

Es ist in der Nationalgalerie gelandet wie ein Ufo: ein vieleckiges grünliches Gebilde, das bald auch noch wild zu blinken beginnt. Wie ein seltsames Tier duckt es sich im hinteren Teil von Mies van der Rohes Halle, beschallt von elektronischen Klängen, ein Fremdkörper, in seiner Struktur unbegreifbar zunächst. „syn chron“ ist die bislang größte Installation des Berliner Künstlers Carsten Nicolai: ein Gesamtkunstwerk aus Ton, Licht und Architektur, erstellt im Auftrag der „Freunde Guter Musik“ für die obere Halle der Nationalgalerie.

So rätselhaft die Struktur auch erscheint, sie hat ihre Regeln. „Die Grundform ist ein Kristallgitter“, erklärt Carsten Nicolai und betrachtet sein fast vollendetes Objekt wohlgefällig. „Allerdings ein Kristall, der nicht sofort als regelmäßiger Körper zu erkennen ist: Er ist nicht orthogonal, wie Mies van der Rohes Raumstruktur, aber er ist auf eine komplexere Art dennoch symmetrisch.“ Mehr noch: Die architektonische Hülse, entworfen von den Architekten Finn Geipel und Giulia Andi, ist nur ein Raum. Im Inneren der begehbaren Kapsel, deren Wände wie eine Membran zu schwingen beginnen, entsteht ein Klangraum, für den Besucher durch Vibrationen erfühlbar. Und die elektronischen Klänge, die Nicolai auf die Wände prallen lässt, werden in Lichtreflexe umgesetzt und bilden Wellen-Muster auf der Oberfläche.

Das hat Tradition, zumal in der Architektur. Der Architekt Bruno Taut stellte 1914 auf der Kölner Werkbund-Ausstellung sein Glashaus vor, einen begehbaren Glaskristall, der farbig leuchtete. Eine Linie, die Nicolai gerne aufgreift: „Anfang des 20. Jahrhunderts haben sich alle mit kristallinen Strukturen beschäftigt. Erst mit dem Bauhaus hat sich der Formenkanon der Moderne durchgesetzt.“ Nur konsequent, dass er sein Objekt auch nicht auf Mies van der Rohes Halle und ihre perfekten Proportionen bezogen hat: der monumentale Raum ist für ihn ein Glaskasten, eine Haut, mehr nicht. Für Nicolai gibt es andere Vorbilder: Buckminster Fuller zum Beispiel. Oder Scharoun, auf dessen Philharmonie „syn chron“ zu antworten scheint. Oder eben Bruno Taut.

Kristalle gab es schon oft in Nicolais Arbeiten: In der Frankfurter Schirn ist derzeit eine große Nicolai-Retrospektive zu sehen, die erste überhaupt in Deutschland. Unter anderem ist dort ein „Einkristall“ zu sehen: eine gezüchtete Scheibe aus perfekten Kristallstrukturen. Auch für eine Ausstellung in Australien züchtet Nicolai in einer Kältekammer künstliche Schneekristalle. Und als die Filmemacher von „Napola“ nach einer Titelsequenz mit blühenden Eiskristallen suchten, haben sie Nicolai gefragt.

Naturwissenschaftliche Phänomene, in den Kunstkontext versetzt. Nicht umsonst gilt der 1965 in Chemnitz geborene Nicolai, der unter dem Label „noto“ auch als Musiker und DJ auftritt, als der Wissenschaftler und Grenzgänger unter den deutschen Künstlern. Immer wieder entwirft er experimentelle Strukturen, beschäftigt sich mit Phänomenen wie Klangwellen, Lichtfunken, Kernen und Spaltung. In Frankfurt sperrt er Töne in Glaskolben ein, setzt Frequenzen auf Fernsehern in Streifenmuster um, baut Bilder aus Magnetbändern und lässt auf einer schwarzen Wand elektrische Ladung als Funkenfeuerwerk erscheinen. Halb Forschungslabor, halb Wunderkammer spielen seine Arbeiten mit der ästhetischen Faszination wissenschaftlicher Phänomene. Das Zauberwort heißt: Komplexität.

Die Installation für die Nationalgalerie ist fast überkomplex. Zwei Architekten und ein Technikerteam mussten beschäftigt werden, um das in seiner Größe so noch nie da gewesene Objekt zu bauen. „Sehr viel weiter kann man in diese Richtung wohl nicht mehr gehen, schon technisch nicht. Wir sind da am Maximum“, gibt Nicolai zu und fürchtet, die Arbeit könne vielleicht „zu barock“ geraten sein. Doch barock ist auch der Grundstoff, aus dem er seine Ideen destilliert: die Formenvielfalt der Natur, zurückgeführt auf ihre kleinsten Bestandteile.

Für den Besucher ist das kaum mehr nachvollziehbar: Wer nichts von Frequenzen, Elementarteilchen und Kristallen versteht, muss sich auf die ästhetische Wahrnehmung beschränken, auf die kühle, minimalistische Schönheit der Lichterketten, Teilchennebel, Magnetstreifen. Den Künstler stört das nicht, er arbeitet sogar darauf hin: Er reduziert zum Beispiel die Farben und beschränkt sich, wie in Frankfurt, ganz auf das polare System von Schwarz und Weiß. Das kann manchmal spröde wirken,oft auch rätselhaft. Von Nicolais Arbeiten geht eine meditative Kraft aus, ähnlich der ewigen Wiederkehr der Wellen am Meeresstrand. Und was die wissenschaftlichen Grundlagen angeht, sagt ert: „Meine Arbeiten haben immer mehrere Ebenen. Man kann sie auch ohne wissenschaftliche oder technische Kenntnisse emotional wahrnehmen.“

Und man kann an ihnen die Sinne schärfen. Denn deren Wechselspiel ist ein Grundthema Nicolais. Man sieht, was man nicht mehr hören kann, spürt, was man nicht sehen kann. So lässt der Künstler in Frankfurt Frequenzen, die das Ohr nicht mehr wahrnimmt, auf einer Wasserfläche Wellen bilden („Wellenwanne“) oder einen polygones schwarzes Objekt („Anti“) auf die Wärme des sich nähernden Besuchers reagieren. „Anti“ wie auch sein Gegenstück „Reflex“ ähneln übrigens in ihrer Kristallstruktur dem Berliner Objekt „syn chron“.

„Den Arbeiten sieht man an, dass sie zur gleichen Zeit entstanden sind“, bemerkt Nicolai, der mit dem Doppelschlag Frankfurt/Berlin so präsent in der deutschen Kunstlandschaft ist wie nie zuvor. Danach wird er erstmal pausieren: Während der Vorbereitung der beiden Ausstellungen wurde er Vater – von Zwillingen.

syn chron. Neue Nationalgalerie, Obere Halle, Eröffnung heute, 20 Uhr, bis 3. April. Live-Präsentationen: 3. März, 19, 20 und 21 Uhr. – Antireflex. Schirn Kunsthalle Frankfurt, bis 28. März. Katalog (Walther König) 34 €. Infos unter www.antireflex.de.

Christina Tilmann

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