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Benjamin Lutzke als Matteo.

© First Hand Films

Im Kino: "Chrieg": Nackte Gewalt

Simon Jaquemet erzählt in seinem Filmdebüt „Chrieg“ von Jugendlichen, die zu Partisanen werden.

Konflikte werden in dieser Familie nicht ausgetragen. Statt kommuniziert wird kompensiert: Der autoritäre Vater, der sich ins Fitnessstudio verzieht oder auf dem Laufband abreagiert. Die stark übergewichtige Mutter, die sich ganz dem Baby hingibt. Und Matteo, der typische unangepasste Teenager mit Slayer-T-Shirt, gefärbten Haaren und undefinierbarer Frisur. Wenn er zu Hause eine Prostituierte als seine Freundin ausgibt, ist schwer zu sagen, ob er damit provozieren oder imponieren möchte.

So oder so – es gibt Ärger. Auf Verständnis darf Matteo nicht hoffen, seine Beweggründe interessieren die Eltern nicht. Auch dann nicht, als er sein neugeborenes Brüderchen für einen Spaziergang in den Wald entführt und bei einem Sturz verletzt. „Ist schon okay“, unterbricht der Vater, als Matteo sich entschuldigen möchte. Aber natürlich ist nichts okay.

Mitten in der Nacht wird Matteo (Benjamin Lutzke) von fremden Männern aus dem Bett gerissen, ins Auto gezerrt und zu einer entlegenen Almhütte gefahren. Hier, in der Abgeschiedenheit, sollen verhaltensauffällige Jugendliche wieder in die Spur gebracht werden. „Kein Internet, kein Alkohol, keine Drogen, kein Fernsehen, kein Handy“, definiert der Bauer Hanspeter die Regeln. „Einfach nur arbeiten. Das tut den Jungen gut.“

Gnade gibt es hier nicht

Dann jedoch geschieht etwas Merkwürdiges. Kaum sind die beiden Männer weg, die Matteo abgeliefert haben, veredelt Hanspeter seinen Kaffee mit einem kräftigen Schuss Schnaps, räumt das Feld und überlässt den Neuankömmling seinen drei Altersgenossen Anton, Ali und Dion. „Seid nicht zu streng mit ihm“, murmelt er noch, aber das ist nicht mehr als ein frommer Wunsch. Hanspeter hat hier oben nichts zu sagen. Regeln gibt es keine. Und Gnade erst recht nicht. Tagelang wird Matteo mit Demütigungen und Gewalt malträtiert, bevor ihn die drei nach einer lebensgefährlichen Mutprobe in ihren Kreis aufnehmen.

Der Krieg, den der Film im Titel trägt, ist ein Partisanenkampf, und Hanspeter ist ein Gefangener. Aus den Bergen führen die Jugendlichen Angriffe gegen eine Gesellschaft, in der sie keinen Platz und keine Zukunft für sich sehen. Nachts fahren sie in die Stadt, wo sie prügeln, rauben, randalieren, eine Disko ausräuchern. Exzess statt Askese also, sicherlich auch nicht ohne kathartische Effekte, aber um Therapie geht es längst nicht mehr. Rauschhaft, lustvoll und hemmungslos reißen die vier alle Brücken ein, die zwischen ihnen und dem Rest der Welt noch bestehen könnten.

Momente beklemmender Intensität

Dabei will „Chrieg“ nicht analysieren und schon gar keine Antworten liefern, verzichtet auf simple Psychologisierung und bietet kaum Gelegenheit zur Einfühlung. Stattdessen konzentriert sich der Film ganz auf die subjektive Wahrnehmung seines Protagonisten, die präzise Handkamera immer hautnah dabei. So vermittelt sich die Kälte von Matteos ersten, in einem Hundezwinger verbrachten Nächten auf der Alm ebenso unmittelbar wie die Wut und Euphorie der späteren Gewalt- und Zerstörungsorgien.

Das virtuose Zusammenspiel von Inszenierung und Darstellern – die Jugendlichen sind zum Großteil mit Laien besetzt – lässt den Film über eine beobachtende Sozialstudie hinausgehen und erzeugt Momente von beklemmender Intensität. Wenn Regisseur Simon Jaquemet sein Langfilmdebüt, für das er im vergangenen Jahr den Max-Ophüls-Preis gewonnen hat, als einen „Schlag in die Magengrube“ beschreibt, dann ist das durchaus zutreffend. Es lässt den Film jedoch unerfreulicher erscheinen, als er ist. Denn nicht allein die rohe Wucht raubt einem den Atem, sondern auch die nicht minder eindringlichen leisen Szenen und nicht zuletzt die Geschichte, die so unberechenbar ist wie ihre Figuren.

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