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Kultur: Im Knäuel der Macht

Grandioses Geschichtsdrama: Mussorgskys „Chowanschtschina“ an der Münchner Staatsoper

Eine monumentale Oper, eine monumentale Anstrengung. Als neuer Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper setzt Kent Nagano mit Modest Mussorgskys grandiosem Geschichtsdrama „Chowanschtschina“ einen Markstein seiner jungen Ära. Es ist ein Werk, das Torso geblieben ist und in München in der Fassung von Schostakowitsch mit Strawinskys Finalversion gespielt wird. Eine Reverenzeinspielung von Claudio Abbado liegt vor, Nagano fährt nun mit der Eroberung der westlichen Bühne fort.

Mühen wurden nicht gescheut, russische Assistenten, Dolmetscherin und Sprachcoach engagiert. Neugierig sind Kritikerkollegen aus Russland angereist. Denn Regie führt in eigener variabler Bühnenarchitektur Dmitri Tscherniakov, der junge Theatermann aus Moskau, der seinen anekdotisch verpusselten „Boris Godunow“ an der Berliner Staatsoper hier bei weitem übertrifft.

Vier Stunden Spannung – und das bei einem höchst komplizierten Volksdrama, das keinen sympathischen Helden kennt. Der Titel „Chowanschtschina“ bedeutet so viel wie Chowanskerei, womit die schurkischen Machenschaften der Fürstenfamilie Chowansky gemeint sind. Russland im 17. Jahrhundert. Kirchenspaltung nach einer Liturgiereform, die von den Altgläubigen nicht angenommen wird. Schwer entwirrbar sind die Intrigen der Fürsten untereinander. Alle streben nach Macht, Leichen säumen ihren Weg, chaotische Zustände, Wirren, große Verwüstung. Der feudalistische Heerführer Iwan Chowansky lässt sich von seinen Strelitzen, den Soldaten im Staat, mit Jubelchören „der Allmächtige“ und vom Volk „weißer Schwan“ nennen, um bald darauf ermordet zu werden. Die aufständischen Strelitzen sind ein übles Pack, das sich damit brüstet, Menschen in zwei Teile zu teilen oder Glied für Glied auseinanderzunehmen. Religiöse Intoleranz erfasst auch die Altgläubigen, wenn sie eine der Ihren, das unglücklich in den Chowansky-Sohn verliebte Mädchen Marfa, als Sünderin quälen. Über allem steht Zar Peter, der im Stück keine Partie hat.

Tscherniakovs Regie setzt hier an. In seinem Bühnengebäude hat jeder seinen Raum, im Obergeschoss als stumme Rollen der heranwachsende Peter, dem nicht zu trauen ist, und seine Schwester Sofia, die ihre Günstlinge als Liebhaber empfängt. Das ist sehr fein inszeniert, mit immer gleichen Gesten, bis die Regierungsmacht der Zarewna erlischt. Die Handlung geschieht an einem Tag, eingeblendet werden dessen Stunden (wie im Berliner „Boris“ die Jahre).

Um 10 Uhr tritt Chowansky in das Zimmer des abendländisch gebildeten Golizyn ein, später Dossifej, Oberhaupt der Altgläubigen. Die drei reden über Tagespolitik und Neuerungen. Da aber die Musik ihre Seele aus der menschlichen Sprache gewinnt, streiten die Herren immer differenzierter. Und es ist unmöglich, sich dem Sog dieses Gesprächs zu entziehen, das eigentlich nur eine Konversation am Tisch ist.

An dem Knäuel von Verleumdungen bastelt ein Bojar (Valery Alexejev) kräftig mit. Als Brieffälscher dient ihm für Geld ein armer Schreiber (Ulrich Reß), als kleiner Strelitze Kuska setzt sich Kevin Conners ein. Und mit den Großen, von denen in der Handlung keiner ungeschoren davonkommt, bilden sie nebst zahlreichen anderen ein unterschiedlich besetztes Ensemble: Anatoli Kotscherga (Dossifej) wird überragt von Paata Burchuladze (Iwan Chowansky) mit seinem schönen slawischen Timbre, Klaus Florian Vogt (Andrej) mit flexiblem Tenor, John Daszak (Golizyn) mit einer eindringlichen Charakterstudie. Marfa ist Doris Soffel mit unausgeglichener Stimme, aber interpretatorischer Glut.

Musikalisch zeigt sich, dass eine Liebe des Komponisten, der kein Konservativer war, den Altgläubigen gehört. Wenn diese Gruppe in den Tod zieht, erinnert sie sich an den Psalm von Gott dem Hüter. Eine angedeutete Utopie. Hier geht die Inszenierung ins Offene und Freie. Im übrigen ergreift sie für keine der konkurrierenden Mächte Partei, zeigt indes Mitleid mit denen, die untergehen: Chowansky, der sein Küchenpersonal demütigt, weil er Todesangst hat, Golizyn, wie er blutüberströmt in die Verbannung getrieben wird.

Das Finale gehört dem fabelhaften Chor, der mit Kent Nagano in tänzerischen Partien noch nicht gänzlich übereinstimmt. Trotzdem hat der Dirigent die Pausenbravos und den Schlussjubel verdient. Denn er deklamiert die Musik härter als Daniel Barenboim seinen Mussorgsky in Berlin, plastisch und scharfgeschnitten, so dass das Wunderwerk als eine Kette von Kühnheiten erklingt.

Politik ist schnell fertig mit dem Tod und das Stück leider aktuell. Peter der Große als Neuerer? Wer rettet Russland? Man höre und bestaune die facettenreiche „Chowanschtschina“ im Münchner Nationaltheater, die sich den Ansprüchen von Mussorgskys politischer Oper stellt.

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