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Kultur: Im Land der Miesmacher

Warum haben die Deutschen keine Lust mehr auf die Zukunft? Eine optimistische Selbst-Diagnose

Seit einigen Wochen hat Deutschland ein eigenes Depressions-Barometer im Internet. Der Index pendelt zwischen „Gar nicht so schlimm“ bis „pathologisch depressiv“. Zwar will der „Spiegel“ in einer aktuellen Serie „Wege aus der Krise“ weisen, aber warum ist das eine so seltene Ausnahme? Warum herrscht in unserem Land unbeirrt das Negative? Und nicht erst seit gestern: 1981, also vor 24 Jahren, erschien im gleichen Magazin eine der größten Serien, die das Blatt je publizierte. Sie hieß „Die Deutsche Depression“, erstreckte sich über sechs Folgen und stolze 72 Seiten und las sich so: „Ein Bild zeichnet sich ab: Gedrückte Stimmung. Versteinerung im Verhalten. Abkapselung. Verbitterung. Verlust an Geborgenheit. Ungewissheit. Selbstzweifel. (...) Ein Gefühl von Leere. Jammern und Lamentieren. Wahnhafte Ängste um Gesundheit und Besitz ...“

Wie gut wir diesen Ton kennen. Schon Heine formulierte über seine Landsleute: „Sie gehen so betrübt und gebrochen herum, wie wandelnde Ruinen.“ Oder Votaire: „Die Deutschen sind die Greise von Europa.“ Aber wie weit sind solche Zuschreibungen nur harmlose Aperçus, die wir auf Partys brauchen, um eine Konversation in Gang zu bringen? Oder handelt es sich um zutreffende Eigen-Diagnosen?

1. Der Alarmismus der Medien

Wie viele Morde werden jedes Jahr in Deutschland begangen? Man stelle einem aufgeklärten Publikum diese Frage. Zehntausend, sagt einer in der ersten Reihe. Vielleicht achttausend? Oder Zwanzigtausend? Wenn man die richtigen Zahlen nennt, herrscht sofort Unglaube. 352 Morde wurden 2003 in Deutschland begangen, einem Land mit 80 Millionen Menschen. Das sind 40 Prozent weniger als vor zehn Jahren. Die Anzahl der Sexualmorde sank von jährlich über 100 in den 70er Jahren auf 18 heute. Nach einer neueren Untersuchung ist die Zahl der Sexualmorde im Bewusstsein der Bevölkerung jedoch um 260 Prozent gestiegen, die der Morde um 27 Prozent.

Medien handeln mit Aufmerksamkeit. Das menschliche Hirn, dieser große Reizapparat mit 10 Milliarden hungrigen Zellen, sucht ständig nach signifikanten Unterschieden. Was wäre geeigneter als Geschichten voller Furcht und Schrecken, um den synaptischen Reiz auszulösen? Jeden Tag werden deshalb allein in den 25 größeren TV-Kanälen um die 800 heimtückische Morde inszeniert. Jeden Tag werden der Liste der Bedrohungen neue Sensationen hinzugefügt: Aus Wirbelstürmen werden Weltuntergänge, aus Waldbränden Menetekel, aus Konjunkturdellen Wirtschaftskrisen. Wer sich vergegenwärtigt, welche gigantischen Mengen von Papier heute zu bedrucken, welche äonischen Sendeformate zu füllen sind, dem wird klar, welche zwanghafte Logik all dem zugrunde liegt. Boulevard und Infotainment verschmelzen in der Hyperkonkurrenz der Medien zu Krisotainment. Auch im Politischen. Wer gerade auf der Abschussliste steht, darauf einigt sich das mediale System ohne Gnade. So werden Menschen, Diskurse und Ideen herauf- und heruntergeschrieben, ausgeschlachtet, populistisch verformt – who cares, solange die Auflage stimmt.

Die moderne Mediokratie korrespondiert mit einer menschlichen Eigenschaft, die die Kognitionsforscher „Rückschaufehler“ nennen: die verzerrte Erinnerung an die Vergangenheit. Früher, so gaukelt uns unser Hirn vor, war alles besser. Weil derzeit eine große Menge von Menschen in jenes Alter kommt, in dem das Leben bilanziert wird (die Baby-Boomer), steigert sich der Retro-Trend zu bizarrem Getöse. Dass es „damals“ womöglich mehr Gewalt in den Familien gab, viel mehr ungelebtes Leben, mehr Blödheit – wer erinnert sich daran? Auf diese Weise wird eine für die mentale Gesundheit von Gesellschaften existentielle Idee preisgegeben: die des Fortschritts.

2. Die Schatten der Vergangenheit

Nun haben viele Nationen sensationistische Medien. Aber in Deutschland ist etwas anders: der Kontext, in dem wir die Probleme beschreiben. Nehmen wir das Mega-Thema Arbeitslosigkeit. Hierzulande löst allein das Wort ein mentales Splatter-Movie aus. Gebraucht wird es nur mit dem Turbo-Zusatz „Massen-“, und jede differenzierte Diskussion kippt in den populistischen Orkus. Die Finnen, eins der weltweit konkurrenzfähigsten Länder, haben seit Jahrzehzehnten konstant 10 Prozent Arbeitslosigkeit, die Spanier vor zehn Jahren 18, heute 11 Prozent. Keine finnische oder spanische Zeitung druckte je die Schlagzeile „Arbeitslosigkeit bedroht die Existenz von Millionen“.

Im Westen Deutschlands pendelt die Arbeitslosigkeit seit vielen Jahren um die 7,8 Prozent. Das ist ungefähr zweieinhalb Prozent von dem entfernt, was man Vollbeschäftigung nennt. Im Osten,nach 60 Jahren Diktatur, ist sie in manchen Gegenden halb so hoch wie in Masuren. Das ist viel zu viel – aber ist es das Ende der Welt? Arbeitslosigkeit wird hier immer eingeordnet bleiben in den Kontext marschierender Stiefel und brennender Häuser. In unserer Weltwahrnehmung schwingt immer noch die historische Erfahrung des Zivilisationsbruches mit.

Die moderne Hirnforschung könnte uns bei unserer Eigen-Diagnose ein wenig entlasten. Sie erklärt jene Angst vor der Angst, die wie ein chronifizierter Schmerz immer aufs Neue die Nervenbahnen aktiviert. So aktualisiert jedes Problem die alten Traumata. Aber wir müssen aus diesem Kreislauf ausbrechen, wenn wir keine Sklaven unserer Vergangenheit bleiben wollen. In „Zukunft braucht Herkunft“ schreibt Odo Marquart: „Gerade wer die Härten und Wunden der Welt nicht wegretuschieren will, muss auf das Krisenpathos verzichten. Er muss sein Jammerbedürfnis und seine Negationslust zügeln (...) Moderne Welt ist nicht ohne Störungen, aber mit ihrem prekären Gleichgewicht aus Universalisierung und Pluralisierung ist sie mehr Nicht-Krise als Krise.“

3. Der Kulturbruch

Deutschland war immer ein Flickenteppich der Kulturen. Von den katholischen Bauernkulturen des Südens bis zum hanseatischen Liberalismus, von der rheinischen Merkantilität bis in die vom Junkertum geprägten Ebenen des Ostens. Lange Zeit war dieser melting pot die Grundlage für den Erfolg der Deutschen – unser Erfindungsreichtum, unsere kulturellen Leistungen basierten darauf. Jetzt, in den Richtungsentscheidungen der globalen Wissenskultur, wird er zum Handicap.

Nehmen wir die Frauen- und Familienfrage. Vor allem gebildete Frauen entscheiden sich gegen Kinder, weil unsere Gesellschaft ihnen eine Balance von Erwerbs- und Familienleben nicht erlaubt. Ganztagschulen, flexible Arbeitswelten und steuerliche Anreize könnten helfen. So haben andere Länder ihre Geburtenraten längst wieder an die notwendige Reproduktionsrate angenähert. Wir wissen also, was zu tun ist. Aber Ganztagsschulen kosten Geld, Flexibilität in der Berufswelt erfordern entschlossene Reformen. Für die finden wir in unserem soziokulturellen Flickenteppich keine tragende Mehrheit.

Viele Frauen, vor allem aus den südlichen katholischen Milieus, aber auch in den Müsli-Milieus der Großstädte, folgen immer noch dem romantischen deutschen Mutterbild, nach dem Kinder unentwegt mit Biokost und Streicheleinheiten umsorgt werden müssen, damit ihre zarten Seelen keinen Schaden nehmen. Auf diese Weise zerbrechen Berufskarrieren, Ehen, Selbstwertgefühle. Ein radikaler Kulturstreit ist entbrannt, bei der sich auch und gerade Frauen bis aufs Messer bekämpfen.

In den Reformprozessen Europas hat sich immer wieder gezeigt: Kleinere Länder können Mehrheitsentscheidungen effektiver in Reformen umsetzen. Im soziokulturellen Riesenreich Deutschland hingegen diskutieren wir bei Sabine Christiansen bis zum Nimmerleinstag über „Die kinderlose Aussterbe-Republik“.Wäre es nicht besser – das ist nicht nur ketzerisch gefragt – die Republik wieder in föderale Einheiten zu zerlegen? Geht nicht? Man blicke auf die Schweiz mit ihren Kantonen, die alle einen anderen Weg gehen, und doch so schweizerisch sind wie die anderen auch...

4. Die verlorene Utopie

Die erste Frage nach meinen Zukunftsvorträgen lautet stets: „Mag ja sein, dass sie Recht haben, aber werden wir Deutschen nicht scheitern, weil ...?“ Danach ist jede Debatte zwecklos. Wir lassen den Gedanken nicht zu, dass es auch besser kommen könnte. Lieber beharren wir auf der eigenen Minderwertigkeit, bis der Arzt kommt. Das sind die klassischen Anzeichen einer chronischen Depression. Aber wir können ja schlecht Prozac ins Trinkwasser von Garmisch bis Sylt mischen. Was also tun?

Jede Gesellschaft braucht eine Erzählung, die sie in die Zukunft geleitet. Auch wir haben eine Geschichte des Wandels. Gewiss war sie über weite Strecken vom Wechselspiel zwischen Hybris und Ernüchterung, Romantik und rabiatem (preußischem) Funktionalismus geprägt; das ist unser Erbe. Aber wie alle Klischees ist auch dieses eine Variable, die historischen Kontexten unterliegt.

Wie wäre es mit folgender maßvoller Zukunfts-Erzählung? Wir leben in einem Übergang. Wir geraten von der Industriegesellschaft in eine offene Welt der Chancen, aber auch höherer Mobilität. Die Berufswelt wandelt sich, weil Menschen in anderen Erdteilen jetzt die Mühen industriellen Fleißes nutzen, um ihren Wohlstand zu mehren: Also müssen wir eine kreativere Ökonomie erschaffen. Eine Ökonomie, die den Mehrwert aus Unterschieden erzeugt, aus Innovationen, besserer Kooperation, dem Eifer des Designs. Dafür brauchen wir mehr als 50 Prozent Hochgebildete, wie in den skandinavischen Ländern. Wir benötigen neue Kardinaltugenden: Toleranz, Kooperation, schöpferisches Querdenken. Dass solche Übergange gestaltbar sind, zeigen uns die positiven Abschnitte der deutschen Geschichte sowie unzählige Beispiele aus anderen Kulturen.

Wer möchte diese Story hierzulande schon hören, zumal sie auf die üblichen Straf-Invektiven und Untergangsdrohungen, auf Lagerbefindlichkeiten und ideologische Zuspitzungen verzichtet? Macht nichts. Fangen wir einfach an. Und dem nächsten deutsche Oberlehrer, der wieder das nahe Weltende beschwört, lässt sich elegant angelsächsisch kontern: Der Pessimist sagt, es könne gar nicht mehr schlechter werden. Der Optimist erwidert: Oh, doch, es kann!

Matthias Horx lebt als Zukunftsforscher in Wien. Er leitet das 1996 von ihm gegründete Zukunftsinstitut mit Hauptsitz in Kelkheim bei Frankfurt am Main.

Matthias Horx

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