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Kultur: Im Rausch der Tiefe

Berliner Geschichte in 3-D-Bildern: eine Begegnung mit dem Sammler Meisterstein

Die Klage über die Verflachung des kulturellen Lebens ist heute ein Allgemeinplatz, gerade in Berlin. Mehr Tiefe kann manchmal aber ganz einfach sein. Als der Berliner Zeichner und Fotograf Wolfgang Stein, Künstlername: Meisterstein, im Sommer 2001 über die Kantstraße bummelte, erregte ein merkwürdiges Instrument in einem Schaufenster seine Aufmerksamkeit, eine kleine schwarze Kamera. Statt nur einem Objektiv sah sie den passionierten Sammler mit zwei Augen an und schien ihm zuzuzwinkern: „Ich bin ein Star, hol mich hier raus.“ Tatsächlich handelte es sich um eine stereoskopische Kamera des russischen Fabrikats Indusstar, eine 3-D-Kamera.

Der heute Fünfzigjährige, der sich mit Cartoons wie den sprechenden Fischen (im „Stern“) einen Namen gemacht hatte, kannte sich mit Fotografie aus. Doch die Stereoskopie war für ihn eine Terra incognita. So dürfte es den meisten Fotografen gehen, denn dem Raumbild wird heute meist in esoterischen Zirkeln gehuldigt, viele Fotografen tun es als technische Spielerei ab. Dabei kann die Stereoskopie auf eine lange Kulturgeschichte zurückblicken.

Sie beginnt in der Antike. Das griechische Wort „stereo“ bedeutet räumlich, „skopein“ steht für sehen. Schon der Philosoph und Mathematiker Euklid hatte um 300 v. Chr. die Grundlagen des räumlichen Sehens erkannt, auch Leonardo da Vinci beschäftigte sich mit der dritten Dimension. Grob gesagt, geht es darum, aus den von beiden Augen wahrgenommenen Halbbildern ein stereoskopisches, also räumliches Bild zusammenzusetzen. Dabei handelt es sich keinesfalls um einen optischen Trick. Im Gegenteil, fast alle Menschen sehen räumlich. Die herkömmliche Fotografie jedoch beraubt den Blick der Tiefe.

Sollte es möglich sein, auch bei Betrachtung eines flachen Bildes den Raumeindruck herzustellen? Erst im Jahr 1832 gelang es dem englischen Physiker Charles Wheatstone, ein so genanntes Stereoskop herzustellen. Ein einfacher optischer Betrachter erlaubte die räumliche Betrachtung gezeichneter Bilder. Doch schon unmittelbar nach der Erfindung der Fotografie durch Louis J. Daguerre verwandte Charles Wheatstone erstmals Fotos für seine Raumexperimente. Die erste Stereokamera entwickelte 1849 abermals ein Engländer, David Brewster.

Aber auch in Deutschland hatte das 3-D-Bild zahlreiche Anhänger. Meisterstein, stolzer Besitzer einer eigenen Kamera, fand im Märkischen Museum das Kaiserpanorama, das sich im Berlin der Jahrhundertwende großer Beliebtheit erfreute. In eine Rotunde waren 25 Stereoskope eingebaut, handkolorierte Glasdioramen rotierten im 15-Sekunden-Takt. Vor dem Auge des Betrachters spielte sich eine Art Wochenschau in Farbe ab: Bemerkenswertes aus aller Welt, zeitgeschichtliche Bilder und Kuriositäten ließen sich studieren wie heute eine Nachrichtensendung – allerdings in räumlicher Tiefe. Der Erfinder des Kaiserpanoramas, August Fuhrmann, gilt als Pionier der modernen Medientechnik und Wegbereiter des Fernsehens.

Die Bilder der Fotografen, die Fuhrmann in alle Welt schickte, und andere stereoskopische Dokumente sammelte Meisterstein. Sein gerade erschienenes Buch „Berlin zum Greifen nah. Ein Jahrhundert in 3-D“ (Eichborn Berlin, 80 Seiten, 14,80 €) unternimmt eine bemerkenswerte Mission in die Tiefe der Stadtgeschichte. Die dem Buch beiliegende Rot-Grün-Brille erlaubt eine Reise nicht nur in die Tiefe der Zeit, sondern auch des Raumes.

Die ältesten Fotos von 1890 zeigen Zeughaus, Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche und Arbeiter beim Installieren einer Gaslaterne. Auf der Friedrichstraße schieben sich 1900 etliche frühe Automobile durch den schon damals dichten Stadtverkehr, und vor der Pyramide der Cairo-Gewerbe-Ausstellung drängen sich des Kaisers Soldaten mit prächtigem Helmschmuck. Verblüffend ist die Lebendigkeit der Bilder, die trotz ihrer Farblosigkeit auf einmal gar nichts Angestaubtes mehr ausstrahlen, sondern in ungewohnter Tiefenschärfe zu neuem Leben erwachen.

Vor dem Opernhaus trägt man Frack und Zylinder, die Berliner Gesellschaft drängt sich vor Zeppelin- und Ballonschauen und Sedanparaden. Ein wenig befremdlich wirken die Propagandabilder aus der Nazizeit, die einen Schwerpunkt des Buches ausmachen. Statt der – kritisch kommentierten – „Führer“-Bilder hätte man sich mehr alltagsgeschichtliche Dokumente gewünscht. Die Nachkriegszeit erstrahlt in Farbe, doch überwiegen Postkartenmotive von Reichstag, Ehrengarde vor der Neuen Wache und Weltzeituhr auf dem Alexanderplatz. Zeitgeschichte weht immerhin durch Peter Kosmowskis und Matthias Augustins Mauerfall-Schnappschüsse. Meistersteins eigene Fotos, etwa von südamerikanischen Tänzerinnen beim Karneval der Kulturen, erinnern an die Zeit, als die 3-D-Fotografen noch Pin-up-Motive bevorzugten.

Nur acht Fotografen sind im Buch vertreten, die Suche nach brauchbaren Stereoskopien ist nicht leicht. Etliche Originale lagen im Archiv des Deutschen Historischen Museums unter Glas, manche wurden nun aufwendig restauriert und nachbearbeitet. Zwar kämpfen in Berlin noch Raumbildklubs gegen die Verflachung der Bilder, doch scheint ihr Kampf fast aussichtslos. Meisterstein plant, seine Sammlung in Ausstellungen zu präsentieren – und kann so vielleicht an die Tradition des Kaiserpanoramas anknüpfen. Es hat ein paar Jahrhunderte gedauert, bis sich die Erkenntnis durchsetzte, dass die Welt keine Scheibe ist. Und die Erfindung der Fotografie ist noch jung.

Meisterstein zeigt Dias seiner 3-D-Fotos bei der „Schönen Party“ in der Kalkscheune, Samstag, 10. Juni, 21 Uhr.

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