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Kultur: Im Schrein des Gottes

SKULPTUR

Der Kontrast könnte größer nicht sein zwischen den monumentalen Gipsabgüssen antiker Skulpturen und den Terrakotta- oder Bronzeplastiken von Miguel Ángel Martín . Ein gewollter Kontrast. Denn der Ort für die Ausstellung des 1959 auf der Kanareninsel La Palma geborenen und heute auf Teneriffa lebenden Bildhauers ist ein von der Freien Universität eingerichtetes Museum zum Studium der klassischen Kunst ( Abguß-Sammlung Antiker Plastik, Schloßstr. 69b, bis 20. April, Katalog 8 €). Martíns Werke stehen auch im Widerspruch zu ihrem (abwesenden) Vor- und Gegenbild, der barocken Sakralplastik. Der Künstler, der eine Doktorarbeit über die Ikonographie des Erzengel Michael geschrieben hat, kennt seit seiner Kindheit die „göttlichen Kleiderpuppen“ aus den Kirchen der Kanaren: Die Figuren selbst verschwinden fast hinter der Prachtentfaltung aus Kleidungsstücken, Schmuck, Perücken und Glasaugen, die den Gläubigen beeindrucken und disziplinieren sollen. Martín schaut unter die Hüllen, entschleiert und entmystifiziert die „heilige Rumpelkammer“. Die Inszenierung des Scheins entblößt sich in authentischen Trägerkonstruktionen, Flügelschrauben und Kerzenhaltern, doch seine Heiligen erscheinen durch Deformierung, Fragmentierung und schrundige Oberflächengestaltung als verletzliche Wesen. Ihr Ernst und ihr Leiden verstört. Räumliche Zuordnungen verweisen auf gestalterische Parallelen zwischen Torso von Milet und Sebastian, Herakles und Hl. Michael. „Timete Deum“ nennt der Künstler die Ausstellung. Nicht nur sein „Fürchtet Gott“ aus der Johannes-Apokalypse ist eine ganz heutige, in surrealer Körpersymbolik sich ausdrückende, aus dem Inneren aufsteigende Furcht, der keine Heilsversprechen mehr korrespondieren. Das macht die Werke so anrührend.

Michael Nungesser

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