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Maggie Nelson bei der National Book Award Verleihung 2016 in New York City

© Getty Images/AFP

Im Sog eines Mörders: Maggie Nelsons Memoir "Die roten Stellen"

Maggie Nelson rekonstruiert mit „Die roten Stellen“ die Geschichte des rätselhaften Mordfalls an ihrer Tante Jane.

Aus einem „wunschlosen Unglück“ gibt es keinen Notausgang. Wie in Peter Handkes berühmter Erzählung sind die Heldinnen in den Büchern der US-Schriftstellerin Maggie Nelson in eine traumatische Lebenskatastrophe festgebannt.

Ihr Unheil hat meist eine Primärquelle: ein Todesfall oder ein Liebesverlust von zerstörerischer Intensität, der die Erzählerinnen dieser Texte zu verschlingen droht. Mit einem geschundenen Herzen kämpft hier das autobiografische Ich gegen einen unbesiegbaren Feind: den Schmerz.

Das Schreiben, so scheint es, ist die einzige Aktivität, die zur Selbsterrettung beitragen kann. Freilich gibt es in dieser Prosa für das Ich keine Katharsis, keine Heilung, sondern immer nur neue Anläufe, um der Gewalt der beschriebenen Traumata zu entkommen.

Das in den USA zuerst 2007 erschienene Memoir „The Red Parts“ – „Die roten Stellen“ (Autobiographie eines Prozesses. Aus dem Englischen von Jan Wilm. Hanser Berlin, Berlin 2020 224 S., 23 €.), wie es in der schlackenlosen Übersetzung von Jan Wilm heißt – rekonstruiert die Geschichte eines rätselhaften Mordfalls.

Nelson geht es um die Beziehung von Zeit und Gewalt

Das Opfer war 1969 die damals 23-jährige Jurastudentin Jane Mixer, eine Tante von Maggie Nelson. 35 Jahre lang blieb der Mord ein ungelöster Fall, als Täter galt lange ein brutaler Serienmörder aus Michigan. Durch die späte Identifizierung einer DNA-Spur gerät nun 35 Jahre nach der Tat ein neuer Verdächtiger ins Blickfeld.

Von den elf Tagen der Gerichtsverhandlung gegen diesen neuen Verdächtigen im Juli 2005, an deren Ende der Angeklagte Gary Earl Leiterman zu lebenslanger Haft verurteilt wird, handelt Nelsons faszinierendes Erinnerungsbuch.

Eine besondere Pointe dabei ist, dass die Autorin bereits kurz vor dem Prozess ein elegisches Poem auf den Tod ihrer Tante Jane publiziert hatte, „Jane: A murder“.

Im Verlauf der Gerichtsverhandlung, die unglaublich akribisch die Details der Ermordung von Jane Mixer rekonstruiert, taucht die Autorin erneut ein in die Szenarien von Schrecken und Schmerz.

War das Poem „Jane: A murder“ ein Akt der lyrischen Imagination, so überschreibt „The Red Parts“ die Umstände des Mordes mit einer erschütternden Faktografie.

Die schutzloseste Gestalt in diesem Buch ist die Erzählerin

Sie wolle nicht den Boom der „True Crime“-Storys bedienen, erklärt Nelson im Vorwort, sondern zu einer „emphatischen Meditation über die Beziehung von Zeit zu Gewalt“ finden. Und einen literarischen Ort herstellen, „wo Trauer für alle Ewigkeit währt“.

Das ist der fabelhaften Erzählerin Maggie Nelson auf fast unheimliche Weise gelungen. Zwar watet sie in ihrem Bericht auch durch die Untiefen einer Reality-TV-Show, die das wachsende voyeuristische Bedürfnis nach keimfrei erlebbarem Gewaltkonsum befriedigt.

Die schutzloseste Gestalt in diesem meisterhaften Prosabuch bleibt indes immer die Erzählerin selbst.

Zu den beklemmendsten Szenen in „Die roten Stellen“ gehört die doppelte wie doppelbödige Darstellung einer Strangulation. Da ist die pedantisch genaue Beschreibung von Fotografien, die den versehrten Körper des weiblichen Mordopfers zeigen und dabei immer wieder den Nylonstrumpf, der beim Akt der Erdrosselung den Hals der jungen Frau fast durchtrennte.

Und da ist das Bekenntnis der Erzählerin, die das Zuschnüren des eigenen Halses mit einem Nylonstrumpf als Mittel zur Steigerung sexueller Lust einsetzt. Solche kühl kalkulierten Frivolitäten sind typisch für Nelsons queer-feministische Gratwanderung auf dem Territorium von Eros und Tod.

Was hier als „Autobiographie eines Prozesses“ angekündigt ist, meint auch die beständige Verwandlung und Selbsterkundung der Erzählerin beim Versuch, jenen Orten rauschhafter Betäubung nahezukommen, „wo Lust und Leiche winkt“ (Gottfried Benn).

Es geht auch in die Kindheit von Maggie Nelson

Maggie Nelson hat ein extrem suggestives Buch geschrieben, ein zwischen Memoir, Essay, Erzählung und tagebuchartigem Protokoll changierendes Werk, das die Rekonstruktion eines Mordfalls zum Anlass nimmt, um die Erfahrungen einer verwundeten Seele aufzuschreiben.

„The Red Parts“ sind die Schmerzpunkte, die traumatischen Schlüsselszenen des eigenen Lebens, an die sich Nelson auch in anderen Büchern herantastet – um sich schreibend von ihnen zu befreien.

So geht es eben nicht nur um die „Autobiographie eines Prozesses“, sondern um eine überwältigend intensiv erzählte Expedition in die Kindheit der Erzählerin und um den obsessiven Sog des „murder minds“ (Wilm übersetzt hier „Mordgemüt“), in den alle Figuren hineingerissen werden.

Der Mord wird schließlich auch für den ermittelnden Polizisten zum fatalen Lebensmittelpunkt, der alle Lebenswünsche überlagert.

Je näher die Aufklärung des rätselhaften Mordes rückt, desto stärker werden die Zweifel der Beteiligten an der Möglichkeit einer juristischen Wahrheitsfindung.

Und um so tiefer sinkt das schreibende Ich in ein Gefühl der Verlassenheit: „Ich habe mich noch nie so verloren gefühlt“, notiert die Erzählerin an einem Prozesstag, „noch nie solche Dunkelheit gefühlt (...)“.

Am Ende des Prozesses wachsen nicht nur die Zweifel, dass der wirkliche Täter seiner verdienten Strafe zugeführt wurde. Sondern auch die Icherzählerin hat einen harten Gerichtstag über sich selbst gehalten, ohne einer erlösenden Wahrheit über das eigene Leben näherzukommen.

In dieser Suchbewegung, der unabschließbaren Einkreisung der Geheimnisse des eigenen Existierens liegt die Wahrheit aller großen Literatur.

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