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Kultur: Im Zeichen des Pavians

Natürlich kann man alles malen, Johannes Grützke gibt seinem verehrten Menzel da völlig Recht. Er selbst aber hält sich vor allem an das Bildnis des Menschen. Nur selten schweift sein Blick aus dem Atelierfenster, um die Welt draußen zu gestalten. Christian Schröder hat ihm dabei über die Schulter geblickt

MEIN BILD VON BERLIN (6): JOHANNES GRÜTZKE

Wenn Johannes Grützke aus seinem Atelier schaut, liegt ihm eine ganze Welt zu Füßen. Die Obergeschosse des gegenüberstehenden Hauses fehlen, es wirkt, als habe ein höheres Wesen die Aussicht auf das dahinter liegende Bild freigesägt. Der Blick geht über ein Flachdach auf Baumkronen und in ein Geschachtel von Brandmauern, Dachterrassen, Hochhäusern. Vor blaugrauem Himmel, irgendwo hinter dem Fehrbelliner Platz, schwebt ein Kran. „Haben Sie den Spielplatz gesehen?“, fragt Grützke. Tatsächlich: Direkt über dem Flachdach, ziemlich genau in der Mittelachse seines Pastells, sind einige rote und beige Flecken zu erkennen. Spielkinderflecken.

Berlin-Wilmersdorf, Güntzelstraße, vierter Stock eines wilhelminischen Altbaus: Der Maler empfängt uns mit nacktem Oberkörper. Grützke hat sein Oberhemd ausgezogen, um es vor Farbflecken zu schützen. Das Hemd ist genauso weiß wie seine Hose, die Socken und die Puma-Turnschuhe. Optisch gleicht der Künstler einem Sanitäter, die porentiefe Reinheit ist sein ironisches Markenzeichen. Auf dem Fensterbrett seines mit Büchern überfüllten Arbeitszimmers hat Grützke eine Malunterlage angebracht, er ist gerade dabei, den Blick aus dem Fenster in Ölkreide festzuhalten. Das Bild ähnelt dem Pastell, das der Maler für den Tagesspiegel geschaffen hat. Nur die Farbpalette ist deutlich abgekühlt, herbstliches Bleigrau hat das sommerliche Grün verdrängt. „Bin fast fertig, muss nur noch fixieren“, sagt Grützke und verschwindet zum Anziehen in die Küche.

Landschaften von Grützke sind rar. Sein ganzes Malerleben lang, das 1957 mit einem Studium an der Berliner Hochschule für Künste begann, hat der gebürtige Karlshorster Menschen gemalt, Fremde, Freunde und immer wieder sich selbst. Mit der Staffelei unterm Arm hinauszuziehen in Gottes Natur war nie seine Sache. Die Impressionisten machten daraus einst ein ästhetisches Programm, begeistert fanden sie mit der Plein-air-Malerei ihren Zugang zu Welt und Wirklichkeit. Grützke ist genauso begeistert den umgekehrten Weg gegangen, gern sitzt er in seinem Wohn-Atelier, wo das Hochbett Gemütlichkeit signalisiert, inszeniert seine grotesken Breitwand-Körperballette („Die Riesen kommen“) und versammelt die Dinge seines Alltags zu Kleinformat-Stillleben („Fuchs über Turnschuhen und Schale mit vertrockneter Birne“). Tiere schätzt er vor allem in ausgestopfter Form. Ein Pavianweibchen mit rotem Hintern malte er so oft, bis seine Freundin eifersüchtig wurde. Und den Fuchs mit dem abgebrochenen Fuß, der neuerdings immer wieder in seinen Bildern auftaucht, fand er vor der Ateliertür, ein Geschenk von Gönnern.

Nicht, dass Grützke etwas gegen die Natur hätte. Im Süddeutschen und Südwestdeutschen ist er häufig unterwegs, bis vor einem Jahr war er Professor an der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg. Für die Rotunde der Frankfurter Paulskirche schuf er ein spektakuläres, 32 Meter langes Rundbild und für die Fassade des Konstanzer Bürgersaals ein dreiteiliges Relief, das an Friedrich Hecker und die Revolution von 1848 erinnert. Kürzlich hatte er sich in einem „Waldhaus Wilhelm“ an der Pfälzer Weinstraße eingemietet. Aus dem Plan, eine Landschaft zu malen, wurde dann doch nichts. „Ich habe es nicht geschafft, weil ich die Masse nicht zusammengebracht habe“, sagt er. „Jedes Blatt wollte einzeln gemalt werden.“

So ein Naturstudium wird schnell zur Abenteuerreise ins Mikroskopische. „Der Kampf des Wurms mit dem Käfer unter einem Wegerich“, das sind Szenen, die den Maler interessieren. Was als Landschaft gedacht war, wird zum Ritterkampf. Grützke knüpft an die alten Meister an, hält sich aber nicht an ihre Limitierungen. Seine Selbstporträts sind nur auf den ersten Blick Selbstporträts. In Wirklichkeit sind sie Studien eines Ein-Mann-Theaters, Grützke probiert auf ihnen Gesten, Affekte, Haltungen aus. „Ich male keine Porträts im repräsentativen Sinn, ich male Oberflächen.“ Die Maler des 19. Jahrhunderts sind ihm näher als die zeitgenössischen Größen. Menzel, „der Erfinder der Allesmalerei“, ist sein Liebling. Er malte friderizianische Schlachten und ungemachte Betten, seine Zeichnungen von mittelalterlichen Steigbügeln, die Grützke gerade für Illustrationen von Ariosts Roman „Der rasende Roland“ heranzieht, seien „präziser als jedes Foto“.

Wir sitzen an einem Tischchen, der 66-jährige Hausherr serviert Spekulatius zum Tee. Die Behausung erinnert an ein spitzweghaftes Genrebild, das Durcheinander wirkt beinahe arrangiert. Nachmittagslicht flutet durch die großen Nordfenster auf ein Skelett, das über dem Schreibtisch baumelt. An der Wand lehnen noch meterlange Leisten für das Frankfurter Rundbild, daneben prostet einem das Porträt eines rotgesichtigen Zechers zu. Grützke trägt seine neueste Lieblingskreation herbei: ein Gipsabguss seines eigenen Arms, hautfarben inkarniert – und zugleich Modell für ein 30 Meter hohes Denkmal, das Grützke gern an der Bundesallee Ecke Hohenzollerndamm aufstellen würde. Die Hand hielte einen Ast, auf dem ein Schmetterling säße. „Solche Monumente fehlen in der Stadt“, findet Grützke. „Man könnte bei einer Wegbeschreibung dann immer sagen: Fahren Sie bis zum Arm und dann rechts.“

Grützke gilt als Realist, die Bezeichnung hängt ihm wie ein Mühlstein um den Hals. Um 1968 hat er ein Selbstporträt gemalt, das er „Benno Ohnesorg greift zum Gewehr“ nannte. Das war revolutionär gemeint, ein paar Jahre später gründete er mit Mitstreitern wie Manfred Bluth und Matthias Koeppel die „Schule der Neuen Prächtigkeit“, die sich zur Schönheit des Trivialen bekannte. Rund 800 Gemälde hat er seit 1964 geschaffen, in einem Büchlein notiert er penibel Signierdatum, Größe und Titel. Ein Polemiker ist Grützke geblieben, erst vor drei Jahren veröffentlichte er „Sieben Pamphlete zur Abschaffung des Begriffs ,Kunst‘“. Er findet, dass ein Maler sich vom Motiv treiben lassen sollte, „nicht von Absichten“. Das Gespräch driftet ins Grundsätzliche. In der „Kunst“ gehe es immer um „Diskurse“, um Worte also, aber Malerei könne doch „unendlich viel mehr“ ausdrücken. Der Pinsel ist für Grützke ein „Seismograph“. „Der Eindruck kommt durchs Auge, dann sollte er möglichst am Gehirn vorbei direkt in den Arm gehen.“ Eine Utopie.

Auf dem Spielplatz, der auf seinem Pastell rot aufleuchtet, kann man den Maler vielleicht bald sitzen sehen. Grützke ist noch einmal Vater geworden. Seine französische Freundin – 30 Jahre jünger und Professorin an der Universität der Künste – gebar am 11. August in Paris, mit 43 Grad Celsius dort der heißeste Tag seit Menschengedenken, eine Tochter: Marie Julien Wilhelmine. Der dritte Vorname erinnert an den Großvater. Wilhelm Grützke führte an der Moabiter Quitzowstraße einen Baustoffgroßhandel.

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