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Kultur: Im Zeichen des Wassermanns

Der Filmheld des Jahres 2003 ist ein Meeresbewohner: der Clownfisch Nemo. In Berlin eröffnete das „Aquadom“, und die Tierfreunde feiern den 150. Geburtstag des Aquariums. Über den maritimen Schauder und die Faszination der Tiefsee

Diese Anmut. Lautlos gleiten sie durchs Wasser, schlängeln um einen Felsvorsprung herum, kreuzen majestätisch durch ihr bescheidenes Reich. Härchen flimmern, Flossen flirren, Schuppen glänzen. Am liebsten lassen sie sich treiben, sinken hinab, glotzen auch mal blöd, aber mit welcher Grazie! Da, ein Zittern geht durch den transparenten Körper, gefolgt von einem kapriziösen Zucken, das in eine formvollendete Schwimmkurve mündet. Manchmal sind’s ganze Schwärme, Makrelen oder Sardinen, die silbrig schillernd ein Wasserballett aufführen, in elegant choreografierter Harmonie. Dann verharren sie wieder, schwerelos schwebend, als seien sie aus der Zeit gefallen.

Und diese Namen. Kanarienlippfisch und Gorgonenhaupt, Mexikosalmler und Mantarochen, Feenbarsch, Meerpfau, Seenelke, Sonnenwels, Schlangennadel, Brunnenbauer, Bodengucker, Trompeten-, Anemonen- und Engelfisch – vom kurzschnäuzigen Seepferdchen und dem roten Knurrhahn zu schweigen. Sage mir, wie du heißt und ich schaue und staune.

Ja, Engelfisch: Unter dem Meeresspiegel geht es überirdisch, außerirdisch zu. Man drückt sich die Nase an der Panzerglasscheibe platt, wirft einen Blick in nie geahnte Tiefen, in das ewige, vorgeschichtliche Dunkel, entdeckt Blindfische, Fürsten der Finsternis, Königinnen der Nacht. Oder man reckt den Hals, lässt Hai und Rochen über sich hinweggleiten. Monster blicken dich an, mit Reißzahn, Stachelflosse, Giftspritze und Brustpanzer bewehrt. Von wegen friedliche Natur. Ob Traumbild oder Nachtmahr: Das Aquarium ist ein Tempel der Fantasie, Palast der Chimären und Visionen: Grottengleichnis, Unterwasserweltwunderkammer, Himmel und Höhle. Nur Fliegen ist schöner.

Der Ocean auf dem Tische

Keine Frage, die Tiefsee hatte Konjunktur in diesem Jahr. Der Kinoheld 2003 war ein Clownfisch namens Nemo, der dem im Stubenaquarium gefangenen Meeresgetier wie seinen zweibeinigen Fans gleichsam ein beherztes „Ins Offene, Freunde!“ zurief und, schwupp, durch Abfluss und Kanalisation zurück in den Ozean mit seinen unendlichen Weiten gelangt. Tausende von amerikanischen Kindern haben ihre maritimen Haustiere daraufhin bekanntlich ins Klo gespült, der Freiheit wegen. Gleichzeitig öffnete in Berlin das Sea Life Center samt Aquadom: das zweite große Aquarium der Hauptstadt. Und Ende Januar kommt mit „The Deep Blue“ der aufwändigste Taucherfilm der Geschichte ins Kino, mit Unterwassergebirgstälern, die kein Auge je sah.

Obendrein feiert die Fachwelt in diesen Tagen den 150. Geburtstag jener britisch-spleenigen Idee: dass man sich das Meer ins Wohnzimmer holen oder wahlweise damit ein publikumsträchtiges Naturtheater veranstalten kann. Mit dem Fish House im Londoner Regent’s Park wurde 1853 das erste Großaquarium eröffnet, es folgten Paris, Wien, Neapel, Berlin. Die fachgerechte Belüftung machte es möglich – und die beim viktorianischen Bürgertum aufkommende Naturwissenschaftsmode samt Schaulust und Sammelleidenschaft. Der Zoo als Akt der Domestizierung: Macht euch das Wilde untertan – mitten im Herzen der Metropole.

Bernd Brunner hat zum Jubiläum ein wunderbares Buch verfasst, das die Erfinder dieser Idee vorstellt. In „Wie das Meer nach Hause kam“ (Transit Verlag, Berlin, 143 S., 16, 80 €) kommt neben dem britischen Naturmystiker Philip Henry Gosse , der 1853 die Bezeichnung „Aquarium“ prägte und an maritimen Arche Noahs bastelte, auch sein deutscher Kollege Emil Adolf Roßmäßler zu Ehren. Roßmäßler war Mitbegründer der Zeitschrift „Die Gartenlaube“, in der 1854 sein Aufsatz „Der Ocean auf dem Tische“ erschien: „Der tyrannische, allgewaltige, unbändige Ocean fluthet auf unserem Tische als die unerschöpfliche Freudenquelle unserer Gesellschaften, unserer Einsamkeit, ohne dass wir uns nur die Füße naß zu machen oder ihm gar den üblichen Tribut aus unserem Magen zu opfern brauchen.“ 1856 machte ein weiterer Roßmäßler-Artikel Furore: „Der See im Glase“. Wohlgemerkt: nicht die, sondern der See. Der Deutsche warb für Süßwasserfische, bald darauf war das Goldfischglas im Salon en vogue. Vereine gründeten sich, Fachzeitschriften boomten – die kleinbürgerliche Variante des aquaristischen Hobbys.

Ob niedlich oder tyrannisch: Woher rührt die Faszination der maritimen Fauna? Warum hielt sich der chinesische Kaiser Zierfische, warum verehrten die Römer Muränen? Ist’s die Überwindung der Schwerkraft, die Leichtigkeit des schwimmenden Seins? Oder doch die Farbenpracht des Korallenriffs, das Clownfisch-Orange, das phosphoreszierende Neongrün, die Purpurrose, das Türkis des Papageienfischs oder das leuchtende Yves-Klein-Blau seiner Artgenossen? Das Perlmutt der Muschel, die opulente Garderobe des Rotfeuerfischs samt Schleppe und Cape mit gekräuseltem Kragen? Dieser Luxus lässt sich ganz ohne Sozialneid goutieren, handelt es sich doch um Gratis-Schönheit und mühelose Vollkommenheit. Eine der schönsten Kompositionen des Abendlandes heißt übrigens „Aquarium“, in Camille Saint-Saens’ „Karneval der Tiere“.

Dumm ist nur: Das exakte Gegenteil trifft ebenfalls zu. Die Tiefsee weckt Urangst und Abscheu, wie Alain Corbin in seinem Klassiker „Meereslust“ ausgeführt hat. Das Unentdeckte, das Chaos der grauesten Vorzeit, als die Erde noch wüst war und leer – hier ist’s Ereignis. Bis heute ist die Erdoberfläche zu 70 Prozent mit Wasser bedeckt, der Mensch selbst besteht ebenfalls zu 60 Prozent daraus, der Säugling gar zu 80 Prozent. Wir sind alle Aquarianer, Überlebende der Sintflut.

Der Taucherfilm, das Aquarium, die Lektüre der Zeitschrift „Mare“ oder der Besuch im Ozeanum, sei es in Sydney mit seinen Glasröhren-durchzogenen Haibecken oder im kalifornischen Monterey mit seinen haushohen, das Gesichtsfeld überragenden Bassins – all das eröffnet „Ansichten des Unzugänglichen und Menschenfernen“, wie der Dichter Durs Grünbein vor ein paar Jahren schrieb. Archetypen mit kriegerischen Physiognomien nennt er die Raubfische der Tiefsee, „erste und letzte Fratzen“ mit wutverzerrten Visagen. Der Raum der abyssalen Abgründe entspreche dem des menschlichen Unbewussten.

Wohl wahr. Deshalb enttäuscht das neue Berliner Sea Life Aquarium, entführt es den Besucher doch zunächst in die Untiefen der Spree. Für nichts interessiert sich der Aquarist weniger als für den Fluss vor der eigenen Haustür. Und diese Belehrungen! Vom Schwarmverhalten über Paarungsgewohnheiten bis zum Thymiangeschmack der Äsche wird dem Fischfreund alles, aber auch alles lautstark erklärt; hinzu kommen Musikattacken per Lautsprecher und die Fischmaul-versehrende Enge etlicher Becken. Solche Entzauberung zerstört jede Faszination.

Denn wir entzaubern das Fremde – indem wir es ins Tiermuseum sperren –, um uns besagten trockenen Fußes davon gleich wieder verzaubern zu lassen. Dunkel muss es deshalb sein, wie in der Kirche oder im Kino, ein bisschen wie in Mamas Bauch. Das erste Berliner Aquarium Unter den Linden war eine Grotte! Die Liebe zum Fisch ist nämlich eine paradoxe Angelegenheit: Wir mögen es gerne exotisch und zugleich anthropomorph. Zwischen Fisch und Mensch existiert eine heimliche intime Beziehung. „Findet Nemo“ zum Beispiel: Da legen die Fische, Seesterne und Meeresschildkröten verblüffend humane Mienen und Macken, Dialekte und Slangs an den Tag. So ein Fisch mit Schnute und Glupschauge ist eben auch nur ein Mensch. Das wusste schon der Heilige Antonius, der in Gustav Mahlers Wunderhorn-Lied die Kirche leer findet und den Hechten, Karpfen und aalen predigt. Bis er herausfindet, dass sie genauso verstockt sind wie unsereins.

Und dann ist da noch das polymorphe Moment. Unter Wasser ist nichts und niemand säuberlich voneinander getrennt. Pflanze oder Tier, männlich oder weiblich, tot oder lebendig, Mikrokosmos oder Makrokosmos – alles eins. Der Ozean, die Ursuppe. Auch die Zeit schnurrt zusammen. Kein Zufall, dass die Apokalypse im Kino nicht selten unter Wasser stattfindet, man denke nur an „Waterworld“ oder an Spielbergs „A.I.“. Gleichzeitig begegnen wir im Aquarium Lebewesen, die schon die Dinosaurier kannten und sich seitdem kein bisschen verändert haben. Fische sind Manifestationen des Traums von der Überwindung der Zeit. Ein Memento Mori, das den Tod ignoriert. Unendlich langsam regen sie sich, Zeitlupengeschöpfe, die sich im nächsten Augenblick pfeilschnell unseren Blicken zu entziehen.

Und dann handelt es sich bei diesen Ur- und Endzeitwesen auch noch um Verwandlungskünstler. Eine Frage der Mimikry: Meeresbewohner bleiben sich treu, indem sie sich unentwegt ändern. Diese Mobilität! Identität ist machbar, gibt uns der Fisch in seiner stummen Wendigkeit zu verstehen. Das ist wahre Souveränität. Und Freiheitskampf auch: Schon Kapitän Nemo (!) schwärmt in Jules Vernes „20000 Meilen unter dem Meer“ von jenen Regionen, in denen die Willkür der Tyrannen endet. „Hier allein ist Unabhängigkeit! Hier beugt mich kein Regiment! Hier bin ich frei!“

Schleiertanz mit Perlenbesatz

Deshalb fühlt sich der Mensch dem Fisch so besonders verwandt. Das Leben ist hart, aber der Fisch, wie er so entspannt vor sich hin schwimmt, macht uns vor, wie auch fragile Wesen finstere Zeiten überstehen können. Furchtlos bewegt er sich durch unwirtliche Gegenden, sei es als notorischer Einzelgänger oder in der Solidargemeinschaft des Schwarms. Die perfekte Ich-AG. Aber dann ist wieder alles ganz anders, der Fisch im Becken erwidert den Blick des Betrachters – und wir staunen über uns selbst. „Der Traum ist das Aquarium der Nacht“, meinte Victor Hugo.

Am Ausgang des alten Berliner Aquariums vollführt die Wurzelmundqualle ihren hypnotischen Schleiertanz. Ein transparentes Nichts, hellblau leuchtend mit Perlenbesatz. Wenn das Tier in die Tiefe sinkt, zieht es seine hauchfeinen Fäden wie eine Schleppe hinter sich her. Wenn es wieder nach oben schwebt, pulsiert der schimmernde Schirm, unendlich gelassen. Ein. Aus. Ein. Aus. Wer lange genug hinschaut, entdeckt die Außenwelt der Innenwelt der Außenwelt. Und man sieht das eigene Herz schlagen.

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