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Kultur: Im Zustand der Gleichgültigkeit

LESUNG

Eine Erzählung ohne Absatz. Thomas Bernhards Text „Gehen“ aus dem Jahre 1971 ist nicht gerade eingängig, dem Titel zum Trotz. Wer als Leser hängengeblieben, gestolpert oder gar gestürzt ist, sollte sich „Gehen“ vorlesen lassen. Die Berliner Schauspieler Timo Sturm und Dominik Stein tun das im Schöneberger „Actorscut“ (Willmanndamm 20, wieder morgen, 6. September, 20 Uhr) so geistvoll, witzig und im Sitzen, dass einem all die Einschübe, Verschachtelungen und indirekten Reden des Textes nicht als Stolpersteine, sondern als Ironie-Pirouetten entgegenpurzeln. Nicht nur ein Bericht über Karrer, der ins Irrenhaus eingeliefert worden ist, sondern auch ein Bericht über das Verrückte und Paradoxe des Lebens überhaupt. “

Indem der monologische Text auf zwei Lese-Rollen verteilt wird, nehmen ihm die Schauspieler ein wenig von seiner klaustrophobischen Besessenheit, geben ihm aber dafür einen wohltuend dramatischen Aspekt. Dieses Vorwärts-Gehen und Nach-Denken rückt Komik und Verzweiflung so nahe wie möglich aneinander und berührt dabei alle fundamentalen menschlichen Lebensprobleme – angefangen von der durchgescheuerten Hose bis hin zur „absolut tödlichen Frage: Warum stehe ich in der Frühe auf?“ Am Schluss habe er nur noch im Bett gelegen und den ganzen Tag mit einer „sich immer noch steigernden Intensität“ verfolgt, heißt es über Karrer, der schließlich in einen „Zustand der vollkommenen Gleichgültigkeit“ gerät. Dieses allmähliche Gleichgültigwerden Karrers ist für das Publikum hingegen eine springlebendige Angelegenheit, die Hirn wie Zwerchfell gleichermaßen reizt.

Tom Heithoff

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