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Kultur: Immer wieder sonntags: Unbedingt erforderlich

Im April erhielt unsere Mietergemeinschaft im Haus ein Schreiben der Wohnungsbaugesellschaft, das uns eine ganz tolle Veränderung ankündigte: ein neuer Kabelanschluss! So neu und so toll, dass wir damit nicht nur noch besser, sondern auch noch viel mehr fernsehen und radiohören könnten als je zuvor: "55 deutsche und fremdsprachige TV- und 32 Hörfunkprogramme!

Im April erhielt unsere Mietergemeinschaft im Haus ein Schreiben der Wohnungsbaugesellschaft, das uns eine ganz tolle Veränderung ankündigte: ein neuer Kabelanschluss! So neu und so toll, dass wir damit nicht nur noch besser, sondern auch noch viel mehr fernsehen und radiohören könnten als je zuvor: "55 deutsche und fremdsprachige TV- und 32 Hörfunkprogramme!", hieß es geradezu ekstatisch. Dazu lasse uns das neue Kabel auch noch in ungeahnten Geschwindigkeiten durchs Internet surfen, und vermutlich würde es uns auch noch dreimal in der Woche Pizza bringen und direkt ins Weltall beamen können - aber Genaueres versprach man, uns demnächst mitzuteilen. Erst mal nur schnell die gute Nachricht, damit die Vorfreude ausgekostet werden kann. Naturgemäß hat sich keiner im Haus groß um die gute Nachricht gekümmert, denn es sollten ja noch nähere Informationen folgen.

Vier Monate später traf ein neues Schreiben ein, und das hatte überhaupt nichts mehr von diesem euphorischen "Schaut-mal-Kinder-was-ich-Euch-mitgebracht-habe"-Ton, vielmehr erinnerte es in seiner kategorischen Diktion an die hektografierten Zettel, die seinerzeit in blockwartgeprüften oder in DDR-Hausfluren aushingen: "Es ist erforderlich, dass in Ihrer Wohnung ein Teilnehmeranschluss fürs Kabelnetz installiert wird. Der Zutritt zu Ihrer Wohnung ist dringend erforderlich. Es ist unbedingt erforderlich, dass der Bereich um die Antennensteckdose frei zugänglich ist."

Wer solche Briefe bekommt, der wird sofort aufsässig und weiß ganz sicher, dass er dieses Kabel bestimmt überhaupt nicht will. Wozu brauchen wir das denn, haben wir die Wohnungsbaugesellschaft gefragt. Um dem ausländischen Mitbürger sein gesetzlich verankertes Recht auf einen Fernsehkanal seiner Heimat zu ermöglichen, lautete die Antwort, und außerdem sähen Satellitenschüsseln so hässlich aus und sowieso sei der D1-Verkehr gestört.

Okeh, wir finden auch, dass sich der ausländische Mitbürger hier wohl fühlen soll, aber muss man uns deshalb gleich Löcher in Fußboden und Decken bohren, hässliche Kabel an die Wände knallen? "Sie können das doch im Gardinenbereich kaschieren. "Wir haben hier keine Gardinen." "Der normale Mensch hat aber Gardinen." Und müssen wir deshalb auch 60 schreckliche Fernsehprogramme haben?

Was, wenn wir die gar nicht haben wollen?, haben wir gefragt und die Antwort war so knapp wie eindeutig: Dann haben Sie absolute Stille, wir kappen Ihnen nämlich das alte Kabel. Markanter neuer Stil in der neuen Hauptstadt der Neuen Mitte. Sieht sie so aus, die demokratische Gesellschaft im dritten Jahrtausend? Ist das ihre Attacke auf zu viel westlichen Individualismus? Abkoppeln und wegducken nicht mehr möglich, 100 Fernsehprogramme als Pflichtprogramm für alle? Warum nicht gleich einen Lautsprecher in jedes Wohnzimmer, falls uns jemand etwas dringend Erforderliches zu sagen hat. Ein beliebtes Sprichwort in den Verschwörungsfanzirkeln der neunziger Jahre lautete: Dass du paranoid bist, beweist noch lange nicht, dass keiner hinter dir her ist.

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