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Kultur: In 80 Platten um die Welt

Wenn Tanten heutzutage ihre Neffen fragen, was der Neffe denn werden will, hören sie immer seltener Pilot.Immer häufiger sagt der Neffe, daß er DJ werden will.

Wenn Tanten heutzutage ihre Neffen fragen, was der Neffe denn werden will, hören sie immer seltener Pilot.Immer häufiger sagt der Neffe, daß er DJ werden will.Nicht nur die Tanten fragen sich: Warum?

Neffen, die DJs werden wollen, fangen als Heimaufleger an.Der Heimaufleger legt seine Platten nur im Wohnzimmer auf, er steht in der Hierarchie der DJs ganz unten.Um zu zeigen, welche Platten und welchen Geschmack sie haben, nehmen Heimaufleger gern Kassetten auf.Mit Vorliebe für Mädchen.Auf den Kassettenhüllen steht dann "Mix für Manuela".Manchmal - dann hat ein Junge großes Glück - ist es auch umgekehrt, und eine Nichte, die vielleicht DJane werden will, nimmt ihm eine Kassette auf.

Der Heimaufleger, der die nächste Hürde auf dem Weg zum weltbekannten DJ nehmen will, muß seine Tante oder andere Verwandte um größere Geldspenden bitten: Er braucht nun ein Mischpult und zwei Technics SL 1200 MK2 Direktantriebs-Plattenspieler.Dabei handelt es sich um die Kultobjekte der DJ Kultur.In Bars in Barcelona hat man sie schon auf Flokatikissen gebettet stehen sehen, die Schreine der DJ Kunst fehlen auch auf kaum einer wirklich wichtigen Ausstellungseröffnung mehr.Der angehende DJ sagt nun "Turntable", nicht mehr Plattenspieler, oder nennt seinen "Zwölfhunderter" einfach "das amtliche Instrument", an dem er üben muß.

Wer DJ werden will, muß üben: blinder Plattenwechsel, mixen, scratchen und mit dem Crossfader des Mischpults von einem Kanal auf den anderen blenden.Die Kassetten, die der Nachwuchs-DJ aufnimmt, heißen nun nicht mehr "Mix für Manuela", sondern Demo-Tapes.Und auf der Suche nach Auftrittsmöglichkeiten vor Publikum fällt immer öfter der Satz: "Ich kann Dir auch mal ein Demo-Tape geben".

Der DJ, der in einem Club auflegt, darf sich wie ein Pilot im Verkehrsflugzeug fühlen: verantwortlich für die Bewegung und selbst kaum zu sehen.In einem Club wirbt der DJ nicht mehr nur um die Liebe der exemplarischen Manuela, sondern um die der ganzen Tanzfläche, die für den DJ nun Dancefloor heißt.Der DJ muß, das ist seine Aufgabe, die Masse zum Tanzen bringen und auf das Publikum reagieren können.Wenn er es kann, darf er die Tanzenden an unsichtbaren Fäden halten und zappeln lassen.Und kann sich, wenn er will, hinter seinen Plattenspielern mitbewegen.Jetpiloten bedienen Schubkraft und Höhenruder, der DJ hat die Hand am Extase-Regler.Der DJ ist Zeremonienmeister, ist Motor und Moderator der Party, "Glücksgenerator" und "Schamane" sagt Rainald Goetz.Und wenn DJs Glück haben, dürfen sie an einem Tag im Juli die ganze menschengefüllte Straße des 17.Juni wie brodelnde Lava unter sich wabern lassen.

Die technischen Voraussetzungen sind anfangs einfach: Der DJ muß einen, dann zwei Plattenspieler bedienen können.Er muß nicht erst fünf oder zehn Jahre Fingersätze und Etüden üben, bis die ersten klaren Töne kommen.Der DJ legt einfach auf.Der DJ muß (außer seinem SL 1200 MK2) kein Instrument spielen können, ein DJ muß im Gegensatz zum Popstar nicht einmal mehr so tun, als könne er ein Instrument spielen.Er muß auch nicht so tun, als könne er singen, und muß auch nicht, wie einst die Protagonisten des Punks, nicht Gitarre spielen können.Ein DJ, auch das unterscheidet ihn vom Popstar, muß nicht einmal gut aussehen.Ein DJ darf auch dick sein, denn er arbeitet im Halbdunkel und selten im Scheinwerferlicht.Das Publikum hat ihm die Rolle des Darstellers abgenommen.Nicht nur im Club, auch auf DJ-Platten sind DJs selten zu sehen.Die DJ Kultur hat sich, so scheint es, inmitten der Bilderflut der Popkultur ein Bilderverbot auferlegt.Bis auf Ausnahmen verstecken fast alle DJs auch ihre bürgerliche Identität und denken sich DJ-Namen aus.DJs bleiben gerne anonym, der DJ darf, wie Lohengrin, seinen wahren Namen verschweigen.Die Decknamen sind Überbleibsel der Ghetto-Kultur, in der die DJ Kultur ihren Ursprung hat.Heute erleichtern sie auch den fliegenden Wechsel von einer Stilrichtung zur nächsten: Mit einem neuen Namen läßt sich auch eine neue Karriere anfangen.Hinter den Plattenspielern darf der DJ in eine andere Rolle schlüpfen.Nachts im Club, solange er auflegt, ist das DJ-Ich ein anderes.Antibürgerlich wie seine Attitüde ist dabei auch seine Arbeitszeit: unter der Woche von nachts bis frühmorgens.

Der Traum des DJs ist eine eigene Platte.Dazu dürfen DJs kleine oder größere Eigenbrötler werden und wochenlang in ihren Keller- oder Wohnzimmerstudios an einem Track basteln.Der Nr.1-Hit aus dem Hobbykeller, in dem sonst die Modelleisenbahnanlage stand, hat den Mythos von der Garagenband abgelöst.DJs müssen sich nicht mit anderen Bandmitgliedern herumärgern, die immer betrunken oder zu spät zur Probe kommen.DJs arbeiten alleine.In der Figur des DJs kreuzen sich Kunst und Technik, der DJ steht auch in der Rolle des einsamen Künstlers, der Tonkunst und -technik paart, auf der Kulturbühne.

Der DJ mixt seinen Flow oder seine DJ-Platte aus dem musikalischen Material, das er in seiner Plattensammlung findet.In seinem Mix fügen sich Zitate, Klangschnipsel, Geräusche und Beats zu einen neuen musikalischen Text, in dem hörbare Übergänge verschwinden.Der Track ist eine Klangcollage, die keine Songstruktur mehr braucht, ein Mosaik aus bunten, tönernen Scherben.Der Tonsetzer-DJ übt sich "in der Kunst des Übergangs" (Richard Wagner) und darf dabei Tonalität - wie die Avantgarde es vorgemacht hat - zugunsten des Geräuschs aufgeben, er darf auch die Hochbahn vor dem Fenster samplen und zitieren, wenn und was er will, solange es ihm gelingt, in einem Fluß vom einen zum anderen zu gleiten.

Der DJ ist meist auch ein Sammler, und die DJ Kultur ist eine Sammel-Kultur.Sie hat ihr Gedächtnis in den Plattensammlungen ihrer Protagonisten."Das Ich des DJ ist in seiner Plattenkiste verstreut" sagt Ulf Poschardt, und Plattensammlungen, das ist bekannt, schreiben Biographien.Gute DJs erzählen mit ihren Platten auch kleine Geschichten aus ihrem Leben.Es gibt unter den Sammlern Klangarchivare, Sammler des guten oder schlechten Geschmacks: Zum Beispiel den, der schon mehr als hundert verschiedene Versionen von La Paloma zusammengetragen hat.Vielleicht wird manch einer auch DJ, weil er die Lieder von früher behalten will.Oder weil er so gern nach kuriosen Flohmarktschlagerplatten sucht, die ohne ihn für immer vergessen wären.Wie nebenbei rettet die DJ Kultur so den schon totgesagten Kulturträger Vinylschallplatte.

Auch die DJ Kultur hat ihre Mode und ihre Folklore.Sie hat sich - dank der Ideenpiraterie von H & M - schon weit verbreitet.Knapp getragene T-Shirts, Kapuzenpullover, alte oder wieder neu aufgelegte alte Turnschuhmodelle.Das sichtbarste Accessoire der DJ Kultur ist die DJ-Tasche: Alle Welt trägt mittlerweile DJ-Taschen.Nur Verkehrspiloten müssen immer noch schwarze Aktenkoffer tragen.DJ-Taschen sind Umhängetaschen mit Schulterriemen im LP-Format, ursprünglich dazu gedacht, Platten zu transportieren.Meist verraten die, die doch nur CDs oder Taschenbücher darin herumtragen, sich dadurch, daß ihnen die Tasche schlabberig ausgebeult an der Seite baumelt.Man sollte also auf jeden Fall immer ein paar Alibi-Platten einstecken.Am besten möglichst unbekannte Importplatten.Am allerbesten aus Japan.Wer gar keine Schallplatten mehr hat, kann auch alte "Europa"-Märchenplatten nehmen, die im Kinderzimmer stehen geblieben sind.Man kann dann immer noch behaupten, man bereite einen Hänsel-und-Gretel-Remix vor.

Für Neffen gibt es genug Gründe, lieber DJ als Pilot werden zu wollen: DJs dürfen berufsmäßig Krach machen, bekannte DJs bekommen neue Platten umsonst.DJs führen ein beneidenswertes Leben: Sie reisen mit ihren Plattenkisten durch die Welt.Und wenn sie Glück haben, finden sie auch den einen oder anderen Schriftsteller, der ihnen ihre Plattenkiste trägt.Der DJ darf Künstler und Techniker sein.Piloten hingegen, Kunstflieger eingeschlossen, geht alles Künstlerische ab.DJs tragen T-Shirts mit Abbildungen ihrer Plattenspieler und legendärer Bandmaschinen und können in DJ-Battles gegeneinander kämpfen.DJs benutzen die Kopfhörer, mit deren Hilfe sie die nächste Platte einmixen, viel lässiger als die "Top Gun"-Kampfpiloten.DJs - das haben sie mit Piloten gemeinsam - hören von dem Krach, den sie mitunter produzieren, sehr wenig.Oft hören sie ihre Musik nur aus kleinen Monitorboxen und lesen die Lautstärke an ihren Instrumenten ab.DJs dürfen sogar Heuler wie "Last Night the DJ saved my life" spielen.Und niemand verpflichtet sie, "Panic" von The Smiths mit der Refrainzeile Hang the DJ auf den Plattenteller zu legen.Und zuletzt dürfen DJs bei ihrer Arbeit auch seltene Flaschenbiere trinken und rauchen.Auch das unterscheidet sie von Piloten.

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