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Bald Dosenfleisch. Der größte Lebendtiermarkt der Welt in Chicago, 1903.

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In den Schlachthöfen von Chicago: Bluthitze, Eisdämpfe

Wiederentdeckung: Upton Sinclairs „Dschungel“, ein Schlüsselroman der modernen Fleischindustrie.

Nichts ist vergesslicher als der Mensch. Darum spielen Kunst und Literatur uns zur eigenen Überraschung immer mal wieder vor, was längst war. Und plötzlich wiederkehrt. Als Corona auch in Europa ausbrach und zuerst in Italien ganze Städte unter Quarantäne gestellt wurden, hat Albert Camus’ „Die Pest“ noch mal sehr viele alte und neue Leser gefunden. Obwohl der Nachkriegsroman in einer Stadt Nordafrikas spielt, kann man das Buch so unverhofft auch als Parabolspiegel der Gegenwart begreifen.

Nun macht die Seuche in den Schlachtbetrieben des Fleischfabrikanten Tönnies und an ähnlichen Stätten der massenhaften Tierverarbeitung klar, dass die Pandemie noch immer präsent und brisant ist. Klimagefährdung, die Misshandlung von Tieren in der industriellen Massenhaltung und Massentötung, dazu die offenbare Ausbeutung von überwiegend osteuropäischen Leiharbeitskräften unter skandalreifen Hygienebedingungen bilden den Hintergrund des aktuell verschärften Corona-Dramas. Und wieder gibt es dazu ein Buch der Stunde.

Der junge Brecht ist begeistert - und vergleicht Sinclair mit Schiller

Es ist vor 115 Jahren in den USA erschienen und war einst ein Welterfolg: Upton Sinclairs Roman „Der Dschungel“. Nach einem brutal niedergeschlagenen Streik von Arbeitern der damals weltgrößten Schlachtbetriebe in Chicago hatte sich der New Yorker Student, Gelegenheitsjournalist, beginnende Schriftsteller und Jungsozialist Sinclair 1904 unter die 20 000 Schlachter, Zerleger, Verwurster und Packer eines der industriellen Tierverarbeitungskonzerne begeben, die mit ihren Fleischkonserven den amerikanischen und internationalen Markt beherrschten. Aus seiner Recherche machte Sinclair den Roman „The Jungle“, der wegen seiner drastisch realistischen Schilderungen zunächst von mehreren Verlagen abgelehnt wurde. Man wollte weniger Blut, Schweiß und Gedärm.

Doch als das Buch des 27-jährigen, bis dahin fast unbekannten Autors schließlich unzensiert und „gewidmet den amerikanischen Arbeitern“ 1905 beim Verlag Doubleday erschien, fand es auf Anhieb enorme Resonanz. Nicht nur unter Vegetariern oder Sozialisten.

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Upton Sinclair (1878 bis 1968), der sich zum Verkauf seiner Schriften notfalls auch selbst auf die Straße stellte und sie bisweilen auf eigene Kosten vertrieb, gelang es, ein Exemplar des „Dschungels“ sogar ins Weiße Haus zu befördern. Worauf der republikanische Präsident Theodore Roosevelt immerhin eine Delegation zur Untersuchung und (teilweisen) Reformierung der US-Fleischindustrie nach Chicago schickte.

Übersetzt in rund zwanzig Sprachen ist „The Jungle“ auf Deutsch zunächst unter dem (später korrigierten) Titel „Der Sumpf“ erschienen. Hierauf bezieht sich noch im Jahr 1920 der Jungdichter Bertolt Brecht als damaliger Theaterkritiker der linken Augsburger Zeitung „Volkswille“. Der 22-jährige Brecht vergleicht dort Schiller (!) und Sinclair, dessen „Sumpf“ ihm „in den Schlachthöfen Chicagos ... Hunger, Kälte, Krankheit“ vor Augen führt. Brecht ist schon in seinem frühen Drama „Dickicht der Städte“ von allem fasziniert, was Chicago als Marke und Metapher verheißt.

Wie das englische Manchester ein Symbol der ersten industriellen Revolution war, steht seit Beginn des 20. Jahrhunderts vor allem Chicago für hoch kapitalistische Konkurrenzkämpfe, für die US-Mafia und den blutigen Weltfleischmarkt. Brecht wird davon angeregt zu seinem unvollendeten Drama „Jae Fleischhacker in Chicago“ und dem 1929/30 geschriebenen großen Kapitalismus-Oratorium der „Heiligen Johanna der Schlachthöfe“.

Wer in den Brühkessel fällt, wird selbst zu „Durhams Feinschmalz“

Sinclair aber geht es nicht nur ums politisch-ökonomische System. Es geht ihm in der Geschichte des litauischen Einwanderers Jurgis Rudkus, den es in die moderne Dante-Hölle der Fleischfabriken verschlägt, und seiner späteren Frau Ona als Zeugen des Chicago-Kapitalismus tatsächlich um lebende, sterbende Tiere und Menschen. Er schildert, wie herzzerreißend die am Fließband und an Kettenzügen kopfüber zum täglich tausendfachen Abstechen transportierten Schweine schreien. Wie zu Dumpinglöhnen die Arbeiter zwischen Bluthitze und Eisdämpfen agieren. So roh wie die eben noch lebende Materie sind auch sie an Händen und Armen von den maschinellen Messern und Sägen entstellt, sind vom Knochenmehlstaub die Lungen verpestet. Und wer hier in einen Brühkessel fällt, wird selbst noch bis auf die Knochen zu „Durhams Feinschmalz“ verarbeitet.

Manches wirkt in Otto Wilcks zuletzt als Rowohlt-Taschenbuch erschienener, jetzt dringend zur Neuauflage empfohlener Übersetzung des „Dschungel“-Buchs heute auch kolportagehaft. Aber vieles bleibt über das Dokumentarische hinaus ein literarisches Zeugnis. Wie aus Borsten, Hufen und Hörnern noch Haarspangen werden, aus Gelenkknorpeln Schuhcreme, „aus übel riechenden Därmen Geigensaiten“. Und Sinclair ist völlig modern, wenn er von „verfälschen Lebensmitteln“ und „Überproduktion“ spricht oder „die Luftverschmutzung, die Krankheiten, die vertane Lebenskraft“ in der Fleischindustrie beschreibt.

Sinclairs nur wenig älterer Kollege Jack London („Der Seewolf“), der selber zuvor einmal Undercover für seinen Erfahrungsbericht „Menschen der Tiefe“ in den Elendsvierteln des Londoner Eastends recherchiert hatte, nannte Sinclairs Roman gar „Onkel Toms Hütte der Lohnsklaverei“. Aufgerüttelt hatte „Der Dschungel“ gewiss. Aber sklavenähnliche Verhältnisse existieren in neuer Form weiter. Nicht nur in der Fleischindustrie.

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