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Kultur: In der Dämmerzone

Der weißrussische Künstler Artur Klinau über die Proteste gegen Lukaschenkos Diktatur

Herr Klinau, Anfang der Woche haben Sie auf dem Oktoberplatz von Minskgegen den Wahlsieg von Alexander Lukaschenko demonstriert. In der Nacht zum Freitaghat die Polizei das oppositionelle Zeltlager geräumt und 200 Regimegegner verhaftet.Mit welchen Gefühlen blicken Sie als Gast des Berliner „Last & Lost“-Festivalsnach Weißrussland, wo Lukaschenkos Konkurrent Milinkewitsch heute, am Unabhängigkeitstag,erneut zu einer Großdemonstration aufgerufen hat?

Das Zeltlager aufzulösen, war nur eine Frage der Zeit. Der Moment jedoch sprichtfür die Perfidie des Regimes, seinen Sadismus mit übergestreiften Handschuhen.Unmittelbar nach der Wahl hätte alles vor den Augen der Welt stattgefunden. Nunsind die meisten Korrespondenten abgereist. Als ich auf die Straße ging, war esfür uns Demonstranten immerhin eine Erleichterung, zu begreifen, dass nicht geschossenwird. Denn noch ein paar Tage zuvor herrschte die reinste Hysterie in Minsk. DieMachthaber wollten das Gefühl erwecken, jeder Demonstrant riskiere sein Leben.

Bevor Sie sich selbst schaden: Wie offen können wir über die politischenVerhältnisse in Weißrussland sprechen?

Es gibt bei uns ein Gesetz, das die Verunglimpfung des Staates verbietet. Seine Auslegung geht so weit, dass es, um ins Gefängnis zu kommen, schon genügen kann, zu behaupten: Der weißrussische Wodka ist nicht gut. Dieses Gesetz ernst zu nehmen, ist absurd.

Lukaschenko brüstet sich damit, dass die Bevölkerung freien Zugang zu denMedien hat, BBC, CNN und Internet eingeschlossen. Zugleich regiert er mit drakonischenMitteln. Wie verträgt sich das?

Das gehört zur postmodernen Ausprägung von Lukaschenkos Diktatur. Formal haben die Medien das Recht zu existieren, zugleich werden sie vielfältig behindert. Zu seiner postmodernen Diktatur, die sich gerade wieder in eine klassische Diktatur verwandelt, gehört auch, wie die Demonstranten beim Zeltlager geschnappt wurden. Man wurde verhaftet, wenn man aufs Klo ging.

Lukaschenko erscheint in den westlichen Medien oft als gewöhnlicher Krimineller.Halten Sie ihn für einen Schurken, für einen Law-and-Order-Überzeugungstäter,einen Heuchler oder einen Wahnsinnigen?

Ich halte ihn keineswegs für unaufrichtig. Er glaubt an das, was er vertritt – selbst wenn es der größte Unsinn sein mag. Für mich ist er eine ausgesprochen vielschichtige Figur, eine geradezu mystische Person.

Obwohl niemals 83 Prozent der Weißrussen Lukaschenko gewählt haben, hater doch breiten Rückhalt in der Bevölkerung. Wie profitiert sie von seiner Politik?

Es gibt in Weißrussland heute eine Form von Stabilität, die man nicht überall findet. Die Revolutionen in der Ukraine, in Georgien oder Kirgistan hatten eine andere Grundlage. In Georgien sind die Leute auf die Straße gegangen, weil sie im Monat zwanzig bis dreißig Dollar verdienen. Bei uns kann man mit dem Durchschnittseinkommen ganz zufrieden sein.

Woher kommt dieser Wohlstand?

Er beruht auf einem grauen Transitsystem. Wenn Russland Waffen herstellt, die es einem verbrecherischen Regime in Afrika verkaufen will, nutzt es Weißrussland als Zwischenhändler. Dadurch ist Weißrussland zu einem der weltweit größten Waffenhändler geworden. Oder Russland stellt Rohöl her, verkauft es zum Vorzugspreis an Weißrussland, wo es Raffinerien gibt und von wo es nach Europa verkauft wird. Damit sind gigantische Gewinne möglich, im vergangenen Jahr fünf Milliarden Dollar.

Die erste Folge eines ehrlichen Wirtschaftens wäre also eine Rezession?

Vermutlich ja. Die andere Frage ist natürlich, wie lange es diese Form von Stabilität noch geben wird. Das ist alles eine Konjunkturfrage. Solange Russland seine Geschäfte aufrecht erhält, steht uns keine Rezession ins Haus. Aber weil es über Jahre keine Erneuerung der Industrieanlagen gegeben hat, werden wir früher oder später eine Krise bekommen.

Was hat Ihre künstlerische Arbeit mit Ihrem bürgerlichem Engagement zu tun?

Es gibt in Weißrussland zwei verschiedene Kulturen: zum einen die offizielle Kultur, die eine Fortsetzung der postsowjetischen Kultur ist. Der Staat investiert nur in diese Variante. Dabei schimmelt sie vor sich hin. Daneben gibt es die unabhängige Kultur, die sich um Aktualität bemüht. Wenn man Teil dieser alternativen Szene ist, bewegt man sich automatisch im Feld der Politik.

Überlegen Sie, wie viele andere, ins Ausland zu gehen?

Nein. Es gibt trotz allem keine Stadt der Welt, in der ich mich so zu Hause fühle wie in Minsk. In Minsk habe ich ein ganzes Reich, über das ich gebiete: die „Sonnenstadt der Träume“. Ich spreche von meinem derzeitigen Großprojekt, der Konstruktion des Mythos Minsk. Jeder, der in die Stadt kommt, sieht sofort, wie einzigartig sie ist. Nach Prag kommen jeden Monat Heerscharen von Touristen. Warum nicht auch nach Minsk?

Die touristische Leidenschaft für die aus den Ruinen des Zweiten Weltkriegserstandenen neoklassizistischen Protzbauten hält sich in Grenzen.

Mir ist bewusst, dass Weißrussland für Europa ein unverständliches Land ist. Dabei geht es nicht nur um die jetzige Situation. Unsere ganze Geschichte in den letzten 500 Jahren ist die Geschichte eines schwierigen, anormalen Landes mit verquerer Psyche. Optimist, der ich bin, finde ich aber, dass man das nicht in ein Problem verwandeln sollte. Die Merkwürdigkeiten von Minsk, seine städtebauliche Unwirklichkeit, seine surreale Atmosphäre, sollte man lieber als Markenartikel verkaufen. Das ist besser, als über unser Schicksal zu jammern.

War es leicht, Minsk zu fotografieren?

Nein. Anders als in Prag kann man sich nicht mit einer Flasche Becherovka in eine Ecke stellen, die Kamera in Position bringen und einigermaßen sicher sein, dass etwas Schönes dabei herauskommt. Man bewegt sich durch die Stadt wie zwischen zwei parallelen Wänden. Der Unabhängigkeitsprospekt, eine 15 Kilometer lange, von zahllosen Palästen gesäumte Prachtstraße, führt einmal quer hindurch. Diesen Prospekt zu fotografieren, ist praktisch unmöglich.

Das „Last & Lost“-Festival beschwört ein verschwindendes Europa. Der stalinistischePrunk von Minsk scheint für die Ewigkeit gebaut. Wie passt das zu den Brachlandschaften,die andere Festivalteilnehmer durchqueren?

Durch unsere Geschichte hat es sich ergeben, dass sich Weißrussland in einem territorialen Übergangsraum zwischen Europa und Russland befindet. Wir leben zum Greifen nah neben Europa und schauen über den Zaun. Weißrussland ist für mich ein verschwindendes Europa, weil Europa genau dort verschwindet: in Weißrussland. Es ist der letzte Ausläufer Europas, eine Dämmerzone.

Muss Weißrussland eine Demokratie werden, damit die Sonnenstadt in vollemGlanz erstrahlt?

Es wäre sicher einfacher, den Markenartikel Minsk in einer Demokratie zu verkaufen. Aber ich sehe den Widerspruch. Für eine Stilreinheit à la Leni Riefenstahl ist es sicher besser, wenn die Sonnenstadt das Produkt einer Diktatur bleibt.

Ihr Traum von der „Sonnenstadt“ spielt auf Tommaso Campanellas utopischenKlassiker „Der Sonnenstaat“ an.

Minsk erscheint mir als größtmögliche Annäherung an die Idee einer idealen Stadt. Nur Pjöngjang könnte in eine ähnliche Richtung gehen. Doch selbst wenn Nordkorea mit uns in einen Wettstreit treten würde: Die Sonnenstadt ist das Projekt europäischen Denkens. Hier, in unserer weißrussischen Dämmerzone, hat es seine Gestalt gefunden.

Deshalb sollen wir sofort Minsk besuchen?

Und aus einem zweiten Grund: In der Sonnenstadt sind alle Frauen schön.

Das Gespräch führte Gregor Dotzauer. Übersetzung: Katharina Narbutovic.

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