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Kultur: In der Gemeinschaft der Dänen

Eine Ausnahme: Bo Lidegaard beschreibt die einzigartige Rettung der dänischen Juden im Oktober 1943.

Hannah Arendt empfahl allen Studenten der Politischen Wissenschaft als Pflichtlektüre die Geschichte der Rettung der dänischen Juden im Oktober 1943, weil sie darin erfahren könnten, „welche ungeheure Macht in gewaltloser Aktion und im Widerstand gegen einen an Gewaltmitteln vielfach überlegenen Gegner liegt“. Wohl gab es anderswo Sabotage, zivilen Ungehorsam und Passivität, auch Immunität gegenüber kurantem Antisemitismus, aber nur in Dänemark gab es tätigen Widerstand.

König Christian X. und alle maßgeblichen Politiker drohten Konsequenzen an für den Fall eines deutschen Übergriffs auf die dänischen Juden; sie wussten oder ahnten, dass die deutsche Besatzungsmacht gerade dies sich nicht leisten wollte – der dänische Fall war in der Tat die europäische Ausnahme, in vielfacher Hinsicht. Er zeigte, dass Opfer auch tätig werden und sich wehren, dass Opfer Verbündete in der sie umgebenden Gesellschaft finden können. Der dänische Fall zeigte aber auch, dass Täter (die Deutschen und die dänischen Polizeikräfte) den Opfern halfen – und sei es durch Passivität – und ungeschoren blieben.

Von dieser Rettungsaktion im Oktober 1943 handelt das Buch Bo Lidegaards, einem ungemein produktiven und geachteten Historiker, vormaligen Diplomaten und heutigen Chefredakteur der liberalen dänischen Tageszeitung „Politiken“. Lidegaard legt eine gut geschriebene, lesenswerte Erzählung vor, die sich an eine breitere Leserschaft wendet, nicht in erster Linie an die Wissenschaft: Geschichte von unten im besten Sinne. Der Impuls für die Aufarbeitung der Rettungsgeschichte kam zum einen aus der europäischen Einzigartigkeit der Rettungsaktion, zum anderen aber auch aus vielen erst jetzt zugänglich gewordenen Quellen. Und in der Tat „lebt“ Lidegaards Erzählung aus den privaten Notizen, den Briefen und Tagebuchaufzeichnungen Christians X., dänischer (und deutscher) Politiker und Militärs, des politisch-gesellschaftlichen Personals, der Verantwortlichen der jüdischen Gemeinde, nicht zuletzt der der jüdischen Verfolgten.

Lidegaards Erzählung gewinnt ihre Spannung aus einem gesellschaftskritischen Ansatz – hier schreibt nicht der positivistische Zeithistoriker, sondern hier ist ein Autor interessiert daran, zu berichten, wie eine demokratisch verfasste Gesellschaft unten tickt – ticken sollte: Gesellschaft zeigt sich als Gemeinschaft, die keinen Unterschied macht unter ihren Teilgemeinschaften, seien sie nun ethnisch oder religiös. An der „Ausnahme“ kann Lidegaard mit vielen Beispielen belegen, dass das dänische „Wir“ keinen Unterschied kennt zwischen Juden und Nichtjuden, zwischen Kommunisten und Nichtkommunisten, um nur diese beiden Gruppen zu nennen.

Der Rahmen der Geschichte ist dieser: Dänemark hatte sich – im Gegensatz zu Norwegen – am 9. April 1940 den deutschen Truppen kampflos ergeben, die Gründe dafür liegen bei einer kleinen Nation wie dieser auf der Hand. Das Zusammenarbeitsreglement lag in beider Interesse: Einerseits blieben die dänischen Opferzahlen äußerst gering, andererseits kam die Besatzungsmacht bis 1943 mit 20 000 Mann aus (in Norwegen waren es 300 000 bis 450 000 Mann); nur 89 deutsche Beamte verwalteten die 3,8 Millionen Dänen (in den Niederlanden waren 1596 deutsche Beamte eingesetzt). Bis zum 29. August 1943 gab es keine willkürlichen deutschen Übergriffe, keine Deportationen, keine Folter und keine Exekutionen – und keine Judenverfolgung. Erst danach schalteten die Deutschen aufgrund aufsehenerregender Sabotageakte und steigenden Widerstands um auf eine andere Politik. Dazu gehörte auch die Umsetzung der auf der Wannsee-Konferenz 1942 beschlossenen Vernichtung der europäischen Juden; Gestapo-Trupps und Transportschiffe wurden in Marsch gesetzt, der Termin der Deportation wurde auf den 2. Oktober 1943 gelegt.

Im jenem Oktober flohen 7742 Personen in Jachten und Fischerbooten über den Öresund nach Schweden, dänische Juden, nach Dänemark geflohene deutsche Juden, Staatenlose und ihre Angehörigen; sie überlebten dort den Krieg. Nur 472 Juden wurden von der Gestapo gefunden und ins KZ Theresienstadt verbracht, 423 von ihnen überlebten und kamen im April 1945 nach Schweden. Mindestens 401 Personen haben ihr Leben aufgrund der deutschen Judenverfolgung verloren: 60 starben in Theresienstadt und anderen Konzentrationslagern, 20 ertranken auf der Flucht über den Sund, 16 begingen Selbstmord, zwei wurden bei Fluchtversuchen erschossen, sechs starben aufgrund von Erschöpfung, Schock oder Krankheit.

Im November rapportierte Werner Best, Hitlers Reichsbevollmächtigter, nach Berlin, Dänemark sei „judenfrei“, was ja nicht falsch war. Aus der Perspektive der Nazi-Strategen war die Aktion jedoch ein totaler Fehlschlag. Adolf Eichmann tobte und flog nach Kopenhagen. Interessant bleibt, dass dies für die deutschen Verantwortlichen offenbar folgenlos blieb. Dass Werner Best und Georg Ferdinand Duckwitz erheblichen Anteil an der Vorwarnung der jüdischen Gemeinde hatten, ist viel diskutiert und wohl auch gesichert. Beide und auch andere Verantwortliche konnten nach dem Krieg auf ihre Hilfe bei der Rettung verweisen. Duckwitz, der seit 1932 NSDAP- Mitglied war, sich später dem Widerstand zuwandte, wurde wieder ins Auswärtige Amt übernommen, wurde Botschafter, unter Willy Brandt Staatssekretär und ist seit 1971 „Gerechter unter den Völkern“ in Yad Vashem.

Es steht aber außer Zweifel, dass die Rettungsaktion nur darum gelingen konnte, weil sie getragen war und aktiv betrieben wurde von der dänischen Bevölkerung. Das zurückgelassene jüdische Eigentum wurde von niemandem angetastet. Es war vielmehr buchstäblich so, dass die Nachbarn in den verlassenen Wohnungen ihrer jüdischen Mitbürger die verbleibenden 20 Kriegsmonate bis zu deren Rückkehr die Blumen gossen. Dänische Bürger haben diese Nachbarn unter Hintansetzung eigener Gefährdung so lange versteckt, bis ihre jeweilige Überfahrt organisiert war. Das Vermögen der jüdischen Gemeinde wurde in Treuhandschaft übernommen, dem Zugriff der Deutschen damit entzogen und gerettet. Die zivilgesellschaftliche, die Widerstands-Kreativität dieser Wochen, das schildert Lidegaard ausführlich, war schier unglaublich.

Erstaunlich auch – im Vergleich zu Gepflogenheiten in anderen Ländern, geschweige denn im Deutschen Reich – ist die „Finanzierung“ der Flucht: Niemand hat sich für seine Hilfe gegenüber den Juden bezahlen lassen, nur die Fischer, die mit größtem Risiko 7000 Menschen nächtens und wochenlang über den Sund schipperten, kassierten. Die Preise waren schwankend, zum Teil beträchtlich; es ist aber gesichert, dass niemand zurückgelassen wurde, weil er mittellos war.

Die Grundlage des Hilfsverhaltens war die nachgewiesene Überzeugung, dass die dänische Gesellschaft eine Gemeinschaft ist, die nicht in Juden und Nichtjuden zu teilen war. Seit Mitte der 30er Jahre wurde die Religionszugehörigkeit nicht mehr im Bevölkerungsregister eingetragen. Die Gestapo konnte also nur durch den Diebstahl der Mitgliederkartei der jüdischen Gemeinden an die Adressen der zu Deportierenden gelangen.

Eine Pointe bleibt nachzutragen, Lidegaard erwähnt sie nicht: Fritz Bauer, der ab 1933 mit Kurt Schumacher im gleichen KZ in der Nähe von Stuttgart gefangen saß, emigrierte 1936 nach Dänemark (wo er auch nicht besonders freundlich behandelt wurde) und floh im Oktober 1943 über den Sund nach Schweden, er arbeitete dort auch mit Willy Brandt zusammen. Seit 1950 als Generalstaatsanwalt zunächst in Braunschweig, ab 1956 in Frankfurt, war er die treibende Kraft, die zur Eröffnung des ersten Auschwitz-Prozesses 1963 führte. Bauer war es auch gewesen, der dem israelischen Geheimdienst Mossad den wesentlichen Hinweis auf den argentinischen Wohnort Adolf Eichmanns gab. Ohne Fritz Bauer keine Rehabilitierung der Männer des 20. Juli, kein Eichmann-Prozess, kein Auschwitz-Prozess. Insofern: Umhüllt von der Zivilcourage und dem bürgerlichen Verantwortungsbewusstsein der dänischen Bevölkerung entkam 1943 auch die Person, die knapp 20 Jahre später entscheidend dazu beitrug, dass den Tätern der Prozess gemacht werden konnte und dass diese nach den Regeln der bürgerlichen Gesellschaft ihrer Bestrafung zugeführt werden konnten. Die „Ausnahme“ ließ auch die Ausnahmegestalt Fritz Bauer überleben.



– Bo Lidegaard:

Die Ausnahme. Oktober 1943. Wie die dänischen Juden mithilfe ihrer Mitbürger der Vernichtung entkamen. Blessing, München 2013. 591 Seiten, Euro 24,99.

Bernd Henningsen

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