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Kultur: In meinen bängsten Tiefen

Opernschocker: Vor 100 Jahren wurde Richard Strauss’ „Elektra“ uraufgeführt

Wann genau sah der Hofkapellmeister Strauss erstmals ein Stück Hugo von Hofmannsthals auf der Bühne? Wann wurde er von der Wucht der Tragödie „Elektra“ in einen knarrenden Berliner Theatersitz gedrückt? Die Initialzündung für die legendäre Partnerschaft zwischen dem Komponisten und dem Dichter liegt im Dunkeln. Es war irgendwann zwischen 1903 und 1905 im Kleinen Theater Unter den Linden, es war eine der ersten Inszenierungen Max Reinhardts, und die Elektra spielte, mit pechschwarzem Haar und verdrecktem Gewand, die 32-jährige Gertrud Eysoldt. Das Stück und die wilde Frau waren Stadtgespräch. Allein in diesen zwei Jahren verkörperte die Schauspielerin die Rolle neunzig Mal.

Nach dem Erfolg seiner „Salome“, bereits vom Spiel Gertrud Eysoldts inspiriert, wusste Strauss um die Kraft moderner Theaterfiguren. Und er wusste, dass der Dramentext bleiben musste, wie er war, um die psychologisch präzise Entwicklung der Figuren für die Oper zu retten. Das war in der deutschen Opernszene ein Sakrileg. Das Dogma bestand darin, dass man (genau wie Wagner) seinen Text selbst zu dichten habe, ohne es (fast genau wie Wagner) wirklich zu können. Und: je deutscher, desto besser. Die Folge: Musikdramen wie „Thusnelda“, „Kunihild“, „Baldurs Tod“ oder Strauss’ eigener „Guntram“ verschwanden schnell in der Versenkung. Strauss war der Erste, der den deutschen Wald, die Rittersäle auf der Bühne nicht mehr brauchte: Der Zauber des Reinhardt-Theaters erwuchs aus Schlichtheit der Szenerie. Der innere Zustand der Figuren war vor ihrem Auftritt klar.

Hofmannsthal hatte für das Kleine Theater seine Vision der „Elektra“-Bühne präzise niedergelegt. Der Innenhof eines griechischen Königspalastes sollte „Enge, Abgeschlossenheit, Un- entfliehbarkeit“ vermitteln. Der große Wipfel eines Feigenbaums, „unheimlich geformt im Abendlicht wie ein halb aufgerichtetes Tier“, habe „die Bühne mit Streifen von tiefem Schwarz und Flecken von Rot“ zu bedecken. Das Bild war die nach außen gekehrte Psyche einer Frau, die traumatisch gestört war. Für das aufklärerische Griechenbild von Goethe und Winckelmann war hier kein Raum. Und wer Sophokles’ „Elektra“ im Original kannte, der profitierte von dieser humanistischen Bildung nicht im Geringsten. Die Art, wie Hofmannsthal Wissen und Erinnerung in seiner Version des Stückes pathologisierte, war ein Anschlag auf die Bildungsgüter des 19. Jahrhunderts. Dass sie nur in der Vergangenheit (dem Mord am Vater) und der Zukunft (dem rächenden Muttermord) lebt, ist Elektras Qual. Die Bühnenrealität ihrerseits kennt keine alten Zeiten, keine Vorgeschichte, kein Vorher und Nachher. „Wo bleibt Elektra“, fragen die Mägde zu Anfang. Gewöhnt sind sie ein täglich sich wiederholendes Ritual: Elektra kriecht bei Sonnenuntergang zum Brunnen, um dort Zwiesprache mit ihrem ermordeten Vater aufzunehmen und Rache zu fordern. Als der manische Kreislauf ihres Geistes schließlich durch die Mordtat des Bruders Orest durchbrochen wird und die Geschichte weitergehen könnte, ist Elektra der gewaltigen Sprache, die Hofmannsthal ihr verleiht, nicht mehr mächtig. Nach einem stummen, ekstatischen Tanz stürzt sie tot zu Boden.

Das Theaterstück wird heute kaum noch gespielt. Für viele ist es eine dramatische Ausgestaltung der fast zeitgleichen „Studien über Hysterie“ von Breuer und Freud. Das Porträt einer sexuell degenerierten Frau, die durch die Erfahrung der Freiheit vollends zerstört wird, sei überholt, sagen die einen. Das Stück lebe vom längst gefallenen Tabu, die eigene Mutter mal so richtig anzuschreien, sagen die anderen. Sicher ist, dass eine schmerz- und ästhetisch keimfreie Annäherung an diese dunkle Figur kaum möglich ist, damals wie heute. Die angemessendste Reaktion zeigte Gertrud Eysoldt 1903 nach der ersten Lektüre. „Ich habe das Gefühl, sie nur einmal spielen zu können. Mir selbst möchte ich entfliehen. Warum rufen Sie mich da in meinen bängsten Tiefen! Wie ein Feind.“

Die Vertonung jedoch machte „Elektra“ zum modernen Klassiker – von Dresden aus, wo die Uraufführung der Oper mit der Sängerin Annie Krull in der Titelrolle am 25. Januar 1909 stattfand. Mit „Elektra“ vollendete Strauss seine komplexeste Partitur und ließ die Harmonik für einen Augenblick hinter sich. Nach dem ersten Schock, nach Erscheinen anderer psychologischer Klassiker der Musiktheater-Moderne wie Schönbergs „Erwartung“ oder Bergs „Wozzeck“ relativierte sich die Modernität der Oper scheinbar. Larmoyant sah man nun zwischen Akkordtürmen und Leitmotiv-Batterien den Traditionalisten Strauss durchblitzen. Wenn „Elektra“ als Oper heute den Eindruck der Klassizität erweckt, so liegt das daran, dass der seelische Ausnahmezustand auf der Opernbühne von jeher die Regel war.

Doch Strauss war weit davon entfernt, den Wahnsinn des Stückes in pastoser Symphonik einzuebnen, er hat die Zerrissenheit der Hauptfigur schmerzhaft erfasst. Der Augenblick, in dem Elektra ihren Bruder erkennt, ist keine opernhafte Apotheose, sondern eine fast zwölftönige Dissonanz des vollen Orchesters. Es ist der Höhepunkt ihrer Schizophrenie: Beim realen Racheakt wird der Sinn ihrer Existenz und damit sie selbst vernichtet werden. „Elektra“ ist ein Meisterwerk – weil sie bei Strauss geblieben ist, was sie bei Hofmannsthal war.

Matthias Nöther

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