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Kultur: „In mir protestiert nichts“

Martin Walser ist für „Stuttgart 21“ und trauert dennoch um den alten Bahnhof. Ein Gespräch

Herr Walser, in Stuttgart wird seit Monaten heftig gegen den Bau eines neuen unterirdischen Hauptbahnhofs protestiert. Können Sie den Bürgerzorn verstehen?

Natürlich muss man Bürgerzorn achten, auch wenn man ihn nicht verstehen kann. Es wäre lächerlich, wenn ich so tun würde, als könnte ich das verstehen, warum die so protestieren. Denn soweit ich dieses Projekt in der Presse mitverfolgt habe: In mir protestiert da nichts. Mir tut es leid um den schönen alten Bahnhof, den hatte ich aufgenommen in meinen inneren Bilderbogen. Aber dass ein Projekt so lange geplant wurde, und jetzt erst regen sich die Gegner auf – das ist deren Sache. Ich kann an deren Protest nicht teilnehmen, ich würde niemals dafür auf die Straße gehen.

Der Stuttgarter Bahnhof von Paul Bonatz gilt als bedeutendster deutscher Bahnhofsbau und Monument einer konservativen Vorkriegsmoderne. Nun soll auch noch sein Südflügel abgerissen werden. Sie haben in den fünfziger Jahren für den Süddeutschen Rundfunk (SDR) in Stuttgart gearbeitet, verbinden Sie sentimentale Erinnerungen mit diesem Gebäude, das fast ein Palast ist?

Natürlich, das ist der Bahnhof aller Bahnhöfe gewesen für mich. Ich bin hunderte Male durch dieses Gebäude gelaufen. Ich könnte nie ein Projekt erfinden, dass so ein Bahnhof abgerissen werden muss. Aber das ist ja auch nicht mein Job. Mir tut das leid, aber ich mische mich in den Komplex „Stuttgart 21“ nicht ein. Die Befürworter, die für die unterirdische Durchfahrt plädieren, haben dafür ihre Gründe. Ich bin auch oft genug in Stuttgart umgestiegen und habe dabei meinen Anschluss verpasst. Ich hätte nichts dagegen, unter Stuttgart durchzufahren. Auch wenn ich das wohl nicht mehr erleben werde.

Im Schlossgarten sollen Hunderte von Bäumen gefällt werden, von denen viele den Bombenkrieg überlebt hatten. Werden Sie sie vermissen?

Ja. Das ist für mich das Schmerzlichste an dem Projekt. Diese Bäume habe ich immer schon erlebt und geschätzt. Es müsste doch eigentlich technisch möglich sein, die Bäume stehen zu lassen und trotzdem den Bahntunnel unter ihnen durchzuführen. Da ist der Bürgerprotest wirklich sinnvoll, da trifft er einen Erlebnisbereich, über den die technischen Planer einfach hinweggehen. Das existiert für die nicht, dass wir einen Gefühlswert mit Bäumen verbinden. Das ist schrecklich, und da muss ich sagen, dass der Protest von Stuttgart einen hohen Lehrwert für die Zukunft haben würde, wenn die Macher von Großprojekten daraus lernen würden, dass man nicht einfach beiläufig etwas kaputtmachen darf, womit sich so viele Erinnerungen verbinden wie bei diesen teilweise jahrhundertealten Bäumen.

Ist es Trauer, die Sie für die Bäume empfinden?

Ich kenne diese Bäume seit Jahrzehnten, ich bin oft zu Fuß vom Bahnhof in die Neckarstraße gegangen, vorbei an ihnen, oder hatte im angrenzenden Theater zu tun. Es tut mir wirklich leid um sie, aber Trauer wäre ein zu großes Wort.

Die Fahrzeit von Ulm nach Stuttgart soll sich durch den 37 Kilometer langen Tunnel von einer knappen Stunde auf eine knappe halbe Stunde halbieren. Ist für eine vergleichsweise kleine Zeitersparnis der Milliardenaufwand gerechtfertigt?

Die Einsparungen an Zeit, die man durch technische Fortschritte bekommt, die kann man doch gar nicht rationalisieren. Wir wissen doch alle nicht, was wir mit der halben Stunde anfangen können, die wir bald schneller in Stuttgart sein werden. Aber das betrifft alle Arten von Beschleunigung. Wenn Sie wie ich ein Leben lang von Friedrichshafen oder Überlingen nach Frankfurt mit dem Zug gefahren sind, dann sind Sie froh, dass Sie das jetzt auch mit einem kleinen Flugzeug machen können. Ich weiß nicht, ob ich die gewonnene Zeit sinnvoll nutzen kann. Aber denselben Weg in 35 Minuten statt in vier oder fünf Stunden zu schaffen, das ist eine Verbesserung der Lebensqualität. Es tut mir leid, ich bin ein Freund dieses Flugs und glücklich, dass wir von Friedrichshafen auch nach Berlin fliegen können. Mit der Bahn würde ich neun Stunden brauchen. Und da bin ich auch etwas lokalpatriotisch. Friedrichshafen war der erste Flughafen in Deutschland, der ab 1929 einen Linienverkehr nach Berlin anbot, supermodern durch seine Nähe zu Dornier. Natürlich fahre ich genauso gerne von Nürnberg nach Dresden mit dem Zug, um Orte zu sehen, die sich in den letzten zwanzig Jahren sehr zum Positiven verändert haben, und die Landschaft zu genießen. Aber ich bin ein Freund der Beschleunigung und freue mich, wenn ich noch schneller dort sein kann, wo ich hin will. Ich bin froh über jede Mühsalsbeseitigung durch Verkürzung.

Heiner Geißler, der die Schlichtung in Stuttgart moderiert, hat gesagt, immer mehr Bürger hätten bei Großprojekten den Eindruck, Technologie werde „nicht zum Wohle der Menschen eingesetzt, sondern um Profit zu erzielen“. Er verwies auf den Einsturz des Kölner Stadtarchivs, ausgelöst durch einen U-Bahn-Bau. Können Sie seine Einschätzung nachvollziehen?

Nein, ich kann nicht alles zusammenbringen, bloß um ein kritisches Potenzial zu entfesseln. Kölner Einstürze und Stuttgart 21 – das geht doch nicht zusammen. Für mich ist das Futter für die Medien, mehr nicht. Ich weiß nicht, ob ich statistisch richtig liege, aber ich glaube, wenn man eine Volksbefragung machen würde, dann wäre die Mehrheit für den Bahnhofsneubau. Nur sind diejenigen, die dagegen sind, heftiger und lauter als diejenigen, die dafür sind. Die gehen halt nicht auf die Straße. Aber auch der Protest wird sich legen. Die Gegner werden ihren Kindern und Enkeln erzählen, dass sie damals gegen den neuen Bahnhof waren, und dann werden sie in den Schnellzug einsteigen, der unter Stuttgart durchfährt.

Stuttgart 21 soll, wie der Name sagt, im Jahr 2021 fertiggestellt werden. Sie glauben nicht, den neuen Bahnhof noch zu erleben?

Dann wäre ich fast Mitte neunzig, dazu kann ich nichts sagen, ob ich dann noch leben werde. Aber das ist auch unwichtig. Wenn ich höre, dass man mit dem TGV-Schnellzug über Paris bis nach London wird fahren können, dann wäre ich schon gerne einmal dabei. Ist doch toll.

– Das Interview führte Christian Schröder.

Martin Walser wurde 1927 in Wasserburg geboren und lebt bis heute am Bodensee. Zuletzt kamen die Tagebücher aus den Jahren 1974 bis 78 heraus. Im Juli erscheint sein Roman „Muttersohn“.

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