zum Hauptinhalt

Kultur: Indianerpfeife und Büßerpantoffel

Die kleinen Großen (2): Die Franckeschen Stiftungen in Halle beherbergen einen Kosmos des Wissens

In Berlins Umgebung gibt es zahlreiche Museen mit ungewöhnlichen Sammlungen: Anlass für sommerliche Tagesreisen zu den „kleinen großen“ Kunst- und Ausstellungshäusern. Am 10. Juli stellten wir das Jagdschloss Schorfheide vor, heute geht es nach Sachsen-Anhalt.

Ein junger Mann im wehenden Talar zieht mit einer Schar Kinder vorbei. Er ist in das historische Gewand eines frommen Pietisten des 18. Jahrhunderts geschlüpft, um den Jüngsten die Welt des Pädagogen August Hermann Francke zu erschließen. Das Kinderkreativzentrum Krokoseum liegt im Sockelgeschoss des ehemaligen Waisenhauses der Franckeschen Stiftungen; im Schatten der historischen Fachwerkbauten sitzen Pädagogikstudenten unter Linden, und von gegenüber, aus den Fenstern des Internats „Latina“, klingen Posaunentöne herüber. Das um 1700 gegründete Gymnasium ist für seinen Musikzweig berühmt. Der Lärm der Schnellstraße hinter dem sechsstöckigen Fachwerkhaus – dem größten Europas –, auf dem denkmalgeschützten Stiftungsareal ist er plötzlich weit weg.

Die Franckeschen Stiftungen in Halle sind ein lebendiger Ort und ein einzigartiger musealer Kosmos. Vor den Stadttoren Halles, wo sich Kaschemmen wie die Schenke „Zum Raubschiff“ angesiedelt hatten, gründete der Theologe August Hermann Francke 1698 eine Armen- und Waisenanstalt, die zu einer wahren Schulstadt wuchs. Sie beherbergte 2000 Zöglinge, umfasste Real- und Lateinschule sowie das weithin berühmte „Königliche Pädagogium“, eine Eliteschule.

Oben unterm Dach des Hauptgebäudes bleckt im ehemaligen Knabenschlafsaal ein ausgestopftes Krokodil die Zähne. Es ist das Prunkstück der einzigen original erhaltenen Kunst- und Naturalienkammer des 18. Jahrhunderts in Europa. Drei Wal-Penisse überließ Landesherr Kurfürst Friedrich III. dem Franckeschen Kabinett als Gründungskapital. In kunstvoll bemalten Schränken ruhen, sorgfältig in Naturalia und Artificialia klassifiziert, Schlangen und Embryonen in Spiritus, seltene Mineralien und exotische Kokosnüsse, wächserne Totenmasken und Holzmodelle von mechanischen Apparaten. Befreundete Missionare schickten Raritäten aus den entlegensten Winkeln der Welt, ein auf Palmblätter geritztes Evangelium in Tamilisch, eine Indianerpfeife oder einen nagelgespickten Büßerpantoffel. Im Zentrum des symmetrischen Sammlungskosmos steht ein riesiges geozentrisches Universumsmodell nach Tycho Brahe, aus Draht konstruiert.

Staunen und Schaudern, Lernen und Erkenntnis sind in diesem vormodernen Museum noch nicht getrennt. Nachdem sie in Vergessenheit geraten waren, konnten die über 4000 Exponate nach der Wende, verschmutzt von Taubendreck, geborgen, in den Originalschränken wieder aufgestellt werden. Für August Hermann Francke waren die Sammlerstücke vor allem Anschauungsmaterial in seinem „Realienunterricht“. Er wollte Bildung auch für die Ärmsten ermöglichen. Vom Altan auf dem Dach des Waisenhauses, zu dem man auf knarrenden Treppen emporsteigt, beobachteten die Zöglinge die Sterne.

„Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, daß sie auffahren mit Flügeln wie Adler“, kündet Franckes Wahlspruch vom Giebel des repräsentativen Waisenhauses. Den Gründungsvater beflügelte ein bibelfester Glaube, zupackend, pragmatisch und sozial engagiert, mit Gespür für öffentliche Ausstrahlung und ohne Scheu vor erfolgversprechenden Wirtschaftsunternehmungen. Eine Druckerei nahm die erste Massenproduktion preiswerter Bibeln auf. Das geheimnisumwobene, mit Blattgold versetzte Kräuterelexier „Essentia Dulcis“ aus der Waisenhausapotheke wurde bis ins Ausland expediert. Seit kurzem wird der „Francke-Trunk“, ein Biosprudel aus Zimt, Zitrone und Mineralwasser, nach der Rezeptur von 1701 wieder gebraut.

Zu den Hauptsehenswürdigkeiten gehört die barocke Kulissenbibliothek, in der 33 000 in Leder gebundene Folianten aus über 100 Sprachen in theaterkulissenartig hintereinander gestaffelten Regalen stehen. Die aktuelle Jahresausstellung der Stiftung widmet sich Amerika: Der aus Halle nach Pennsylvania gesandte Pietist Heinrich Melchior Mühlenberg begründete das amerikanische Luthertum. August Hermann Franckes kommunikatives Netzwerk spann sich, wie Tausende von Briefen im Stiftungsarchiv belegen, bis Südindien, Sibirien und ins Baltikum.

Wo einst Franckes Schulgarten war, ist ein moderner Terrassengarten als pädagogisches Modellprojekt entstanden. Die von Schulklassen und Kitagruppen liebevoll gepflegten Themengärten stehen als lebendiges Museum allen Besuchern offen. Im Apothekergarten gedeiht Heilkräftiges von der Ringelblume bis zum Frauenmantel. Im Bibelgarten grünen Olivenbaum, Kürbis und Getreide, daneben wachsen passend zum Amerikajahr Importe wie Sonnenblume, Mais und Tomaten. Ein idealer Lernort für die Studenten der gleich daneben angesiedelten Pädagogischen Fakultät und ein „Pflantz-Garten“ ganz im Sinne Franckes. Im Feuchtbiotop sind gerade die Lurche geschlüpft.

Öffnungszeiten Di-So 10-17 Uhr. Informationen unter: www.francke-halle.de

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false