zum Hauptinhalt
Postkoloniale Perspektiven. Die temperamentvolle Erzählerin Petina Gappah.

© Henry Oliver Hakulandaba

Internationales Literaturfestival Berlin: Das ererbte Chaos

Petina Gappah aus Simbabwe eröffnet das Internationale Literaturfestival Berlin – und stellt ihren Roman über den Afrika-Missionar David Livingstone vor.

Als Petina Gappah vor zwei Jahren beim Internationalen Literaturfestival Berlin auftrat, war Präsident Robert Mugabe nach drei Jahrzehnten autoritärer Regentschaft in ihrer Heimat Simbabwe noch immer am Ruder. Irgendwann nach Mugabe, sagte Gappah damals, werde sie dorthin zurückkehren. Zwei Monate später trat der vergangene Woche im Alter von 95 Jahren verstorbene Regierungschef auf Druck des Militärs zurück.

Ihrer Wut über Mugabe und seinen Verrat „am Traum der Unabhängigkeit“ hat die 1971 im damaligen Rhodesien geborene und in der Hauptstadt Harare aufgewachsene Autorin, die zugunsten der Literatur ihren Brotjob als Handelsjuristin in Genf aufgab, wiederholt Luft gemacht.

Der Kolonialismus sei schlimm gewesen, so Gappah, doch eine historische Ungerechtigkeit als Vorwand zu nehmen, um heute Menschen zu unterdrücken, sei noch weniger statthaft: „Ich bin Mugabe gegenüber unverzeihlicher als gegenüber Ian Smith“, erklärte sie. Smith war von 1964 bis 1979 Premierminister.

Mugabe ist Geschichte, doch die Hoffnung auf ein freies und prosperierendes Simbabwe haben sich für Petina Gappah, die derzeit in Edinburgh wohnt, nicht erfüllt. Unter dem seit 2018 regierenden Emmerson Mnangagwa, auf den auch sie ihre Hoffnung setzte, hat sich die wirtschaftliche Situation des Landes dramatisch verschlechtert. Simbabwe wird von einer galoppierenden Inflation gebeutelt, und auch in der Verfolgung der Opposition steht der neue Chef der Zimbabwe African National Union – Patriotic Front, der ZANU-Partei Mugabe offenbar in nichts nach.

Petina Gappah, die eine enge Beraterin des neuen Präsidenten in Handels- und Investitionsfragen war, hat aus Frust über die Entwicklung ihren Vertrag nicht verlängert. Die hohen Beamten der Regierung, klagt sie, würden sich weiterhin auf Kosten des Landes persönlich bereichern. 135 Jahre nach der Berliner Konferenz, auf der die Kolonialstaaten den afrikanischen Kontinent mit willkürlichen Grenzen überzogen, zeigt sich, dass die damals implementierte Herrschaftsphilosophie fortwirkt.

Missionare und Abenteurer

Die postkoloniale afrikanische Literatur hat diese Strukturen vielfach in den Blick genommen – Petina Gappah eingeschlosssen. In ihrem Debütroman „Die Farben des Nachtfalters“ verhandelt sie am Beispiel eines aus der gewalttätigen Gefängnis-Gegenwart erzählenden Albino-Mädchens die Anpassungsbereitschaft in einem unabhängigen indigenen Land, „in dem aber alles, was von Weißen stammt, höher geschätzt wird“. Ihr Erzählungsband „Die Schuldigen von Rotten Row“ lenkt den Blick auf den Alltag in Harare, auf „Kapitales“ und „Kriminelles“, tragische und skurrile Konflikte, die zwischen Friseursalon, Taxi und Hochzeiten ausgetragen werden.

Ihr neuer Roman „Aus der Dunkelheit strahlendes Licht“ führt nun noch einmal zurück an den historischen Ausgangspunkt, in die Jahre vor der Berliner Konferenz. So wie die Rucksackreisenden der 1970er die Wege für den Massentourismus ebneten, schlugen Missionare und Abenteurer zu jener Zeit Schneisen durch den „dunklen Kontinent“ und hinterließen Spuren, die die eingeborene Bevölkerung auf den künftigen „Zivilisationsauftrag“ vorbereiten sollten.

Der Gedanke an Afrika bereitete Livingstone körperliches Vergnügen

Ein prominenter Agent dieser Spezies war der 1813 in Glasgow geborene Missionar David Livingstone, der drei große Forschungsreisen in Zentralafrika unternahm, mit dem offiziellen Ziel, den Sklavenhandel zu beenden, jedoch von männlicher Eroberungsgier getrieben war. „Der Gedanke, wildes, unerforschtes Land zu bereisen, bereitet mir höchstes körperliches Vergnügen“, zitiert Gappah ihn aus seinem letzten Reisebericht.

Livingstones letzte Expedition, die ihn von Sansibar zum Malawisee und um den Tanganjikasee führte, war Folge seiner Besessenheit, die Quellen des Nils zu entdecken. Körperlich geschwächt starb er während der Reise im Mai 1873 an einer Ruhrerkrankung. Der von England ausgesandte Suchtrupp kam zu spät, durchquerte Afrika aber erstmals von Osten nach Westen.

An diese Ereignisse knüpft der Roman an, mit dem selbstgesteckten Auftrag, die Geschichte aus dem Blickwinkel jener 69 „dunkelhäutigen Gefährten“ zu erzählen, die Livingstone, ihren „Bwana Daudi“, begleiteten. Es handelt sich um ehemalige, teilweise christianisierte Sklaven und Araber, Frauen und Kinder inbegriffen, die für ihn kochten, Lasten trugen, Hütten bauten und „seine Kämpfe fochten, seine loyale und treue Gefolgschaft“. Bei Livingstone tauchen sie höchstens als Fußnoten auf.

Verrat an den Kindern

Was aber, so der Prolog, „wenn wir damals gewusst hätten, dass unser letzter Akt der Loyalität den Samen für den Verrat an unseren Kindern, an ihrem Schicksal und auch dem ihrer Kindeskinder säen würde; dass der von ihm gezeichnete Lualaba der Beginn des großen Kongo unseres Niedergangs war, der schiffbare Fluss, auf dem der weiße Mann kommen würde?“

So bildhaft eingeleitet, erzählt zunächst die redselige Köchin Halima ihre Geschichte. Das Archipel Sansibar ist Umschlagplatz des von Banden kontrollierten ostafrikanischen Sklavenmarkts, der trotz des britischen Sklavereiverbots auf dem Indischen Ozean floriert.

Der Hauptteil folgt dem historisch verbürgten (und erst nach Beendigung des Romans erschienenen), von Gappah fiktiv ausgestalteten Tagebuch von Jacob Wainwright, einem in einer Missionsschule in Bombay christianisierten Schwarzen, der mit weiteren Schülern und durch Vermittlung des Afrikaforschers Henry Stanley auf die Livingstone-Gruppe stößt. Der größte Wunsch des hybriden, in wilder Anpassungsbereitschaft gefangenen jungen Mannes ist es, in England ordiniert zu werden.

Livingstones überraschender Tod stellt die zusammengewürfelte Gemeinschaft vor die Entscheidung, was mit seiner Leiche anzufangen sei. Die listige Halima überzeugt die Männer, dass man ihm am besten seine Innereien entnehme, um sie an Ort und Stelle zu vergraben. Die getrockneten Überreste sollen durch den Dschungel bis an die Küste nach Bagamoyo getragen werden. Die Reise erweist sich als gefährlich. Nicht nur Krankheiten, Hunger und Überfälle durch Sklavenhändler müssen überstanden werden, auch Eifersuchtsdramen, Gezänk und Demütigungen zerreißen die Gruppe.

Trompeten der Engelsheerscharen

„War es alle diese Mühe wert? War er es wert?“, fragt sich Halima am Ende des ersten Teils, als Zweifel an der Integrität Daudis aufsteigen. Derweil träumt Jacob noch selbstverliebt von den Trompeten der Engelsheerscharen, sollte es ihm gelingen, „ein schwarzes Schaf“ wie Abdullah Susi, ein alter Vertrauter des Doktors, „über die Schwelle der Himmlischen Stadt“ zu bugsieren.

[Mehr: literaturfestival.com. Einzelticket 8/6 €, Tagesticket 18/14 €, Festivalpass 60/50 €.]

Erst später findet er heraus, dass der tiefverehrte Doktor Livingstone auch den Pakt mit dem Teufel nicht scheute. Der naive Glaube des schwarzen Bekehrten trifft auf weiße Doppelmoral. Doch auch wenn Jacobs pfäffische Suada komisch wirkt, hat sie etwas Diskreditierendes und strengt über die weite, barock ausgemalte Strecke des Romans etwas an. Multiperspektivisch ist der Roman also nur aus dem Blick der beiden erzählenden Protagonisten.

„Du willst dich anziehen wie sie und sprechen wie sie, aber du wirst nie einer von ihnen sein“, wirft der einäugige Chirango Jacob vor. In gewisser Weise wiederholt sich diese Problematik im heutigen Simbabwe, auch wenn die schwarze Elite den Platz der Weißen eingenommen hat und an der Reihe ist „zu essen“.

Sie habe verstanden, sagt Gappah, dass tiefgreifende Reformen das Letzte sei, was die Führungsschicht in Simbabwe anstrebe und dass es dafür viele Gründe gebe. „Doch irgendwann wird diese Regierung an ihren Fehlern gemessen werden und nicht an den Gründen für ihre Fehler.“ Einer dieser Gründe ist das Erbe des Kolonialismus.

Das Buch und das Festival

Petina Gappah: Aus der Dunkelheit strahlendes Licht. Roman. Aus dem Englischen von Anette Grube. S. Fischer. Frankfurt a.M. 2019. 428 S., 24 €. – Die Autorin hält am 11.9., 18 Uhr, im HAU1 die Eröffnungsrede zum Festival. Ihren Roman präsentiert sie am Do, 12.9., 21 Uhr, in der James-Simon-Galerie. Schon um 18 Uhr spricht sie dort mit Wolfgang Kaleck zur Frage „Was heißt Dekolonisierung heute?“.

Vom 11. bis zum 21. September findet zum 19. Mal das Internationale Literaturfestival Berlin (ilb) statt – überwiegend im HAU1 und HAU2, aber auch im Weddinger Silent Green und der James-Simon-Galerie.

Rund 150 Autoren und Autorinnen aus über 50 Ländern sind dabei zu Gast. Drei Schwerpunkte prägen das diesjährige Programm. Die Reihe „Decolonizing Worlds II“ setzt die Debatten um das koloniale Erbe des Westens aus dem letzten Jahr fort. „About:Sex“ bringt kulturhistorische und neurowissenschaftliche Ansätze mit der #MeToo-Debatte zusammen. Im Rahmen des Wissenschaftsjahres zur Künstlichen Intelligenz setzt sich „Automatic

Writing 2.0“ überdies mit algorithmischer Textherstellung und maschineller Übersetzung auseinander. Schriftsteller wie Philipp Schönthaler oder Ann Cotten treffen auf Computerlinguisten und KI-Theoretiker.

Das traditionelle Herzstück bleibt aber die Sektion Literaturen der Welt. Zu Gast sind unter anderem der Franzose Mathias Énard, der US-Navajo Tommy Orange, der Angolaner José Eduardo Agualusa, der Brite Robert Macfarlane, ein Meister des Nature Writing, und der Argentinier Patricio Pron.

Zur Startseite