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In Jakarta in Indonesien protestieren Arbeiter gegen Arbeitsbedingungen.

© dpa

Internationales Literaturfestival Berlin: Einsam in der Menschenfabrik

Das Internationale Literaturfestival Berlin beschäftigt sich mit Megacities im Jahr 2030. Während europäische Autoren in die Vergangenheit blicken, diskutieren Schriftsteller aus Asien und Afrika den Zustand der Gegenwart.

In New York, erklärte der französische Soziologe Jean Baudrillard Anfang der neunziger Jahre, müsse man es für ein Wunder halten, dass jeden Morgen alles wieder von vorne beginne, nach all der Energie, die am Abend zuvor verschwendet worden sei. Die Megastadt, glaubte er, speise sich aus reiner Verausgabungsenergie, aus Abfall, Lärm und Kohlendioxid. Die Megastädte des 21. Jahrhunderts indes, dauernd auf der Kippe zwischen Absturz und Selbsterhaltung, stellen die Verhältnisse, als deren Inbegriff ihm der Big Apple galt, längst in den Schatten. Sie sind vielfach unregierbar geworden.

„Stadtluft macht frei“, zitierte die Denkmalschützerin Zeynep Aygen beim Internationalen Literaturfestival Berlin (ilb) ein mittelalterliches Versprechen, das seine Ambivalenz bis heute nicht verloren hat. Denn hinter Stadtmauern lassen sich vielleicht Sicherheit und Freiheit finden, doch was ist mit den Ausgeschlossenen vor den Toren, den Armen, die sich rund um die großen Städte ansiedeln, in der Hoffnung, ins Zentrum gelangen? Und welche Folgen hat es, wenn sich die wohlhabende Stadtbevölkerung in Gated Cities zurückzieht?

Wie in den vergangenen Jahren suchte das ilb auch dieses Jahr den Schulterschluss zwischen Literatur und Wissenschaft und nahm das Wissenschaftsjahr zur „Zukunftsstadt“ zum Anlass, zwölf Autorinnen und Autoren aus aller Welt nach ihren Vorstellungen von der Stadt im Jahr 2030 zu fragen. Die dabei entstandenen Erinnerungsbilder, Bestandsaufnahmen und Visionen sollten mit Experten verschiedener Disziplinen diskutiert und in „Stadtgesprächen“ mit dem Urbanisten Omar Akbar, viele Jahre Direktor der Stiftung Bauhaus Dessau, vertieft werden.

Der aus Bombay stammende Autor Suketu Mehta („Maximum City“) erzählte von einem Café in seiner Nachbarschaft, dessen Besitzer sich wünsche, dass es sein Sohn in vierter Generation übernehme. Doch es siedeln sich Künstler an, die ihren Kaffee anderswo trinken, und sie ziehen die Wohlhabenden nach, die die Alteingesessenen verdrängen. „Sie mischen sich nicht“, erklärt er diesen Prozess der Gentrifizierung, und setzt hinzu, eigentlich müsste er jeden neu ankommenden Künstler erschießen.

Wohlhabende schotten sich ab, Armut bleibt unter sich

In der modernistischen Gesellschaft, sagte die Türkin Perihan Magden, hätten Arme, Alte oder Hässliche keinen Platz mehr, der Auftritt in der Stadt sei auf Selbstdarstellung und Voyeurismus ausgerichtet. Sie verglich ihre Heimatstadt Istanbul mit einer „Menschenfabrik“, zugepflastert mit Menschen, die zur Einsamkeit verdammt sind. Doch warum zieht es die Menschen dann weiter in die großen Städte?

Afrika, erklärte der nigerianische Schriftsteller Helon Habila, der mittlerweile an der amerikanischen George Mason University im Bundesstaat Virginia Creative Writing lehrt, erlebe derzeit die größte Urbanisierungswelle der Welt. Der Hafen der Lagunenstadt Lagos sei „von Scheiße gesäumt“, es stinke, und nicht nur das Meer, auch der Müll drohe die Stadt zu verschlucken. Wie Lagos sind auch Jakarta oder Karatschi kaum mehr regierbar. In Jakarta, so die Indonesierin Leila S. Chudori, die ihrer Stadt „in Hassliebe“ verbunden ist, besitze eine Mittelschichtsfamilie durchschnittlich fünf Autos, das Verkehrschaos sei unermesslich. Sechs Millionen Pendler hat die Stadt, von der keiner weiß, wie viele tatsächlich in ihr leben. Öffentliche Räume gebe es so gut wie gar nicht. Wer sich erholen wolle, gehe in die Shopping Mall. Gleichzeitig gibt es verstärkt religiöse Spannungen.

Smart City mit totaler Vernetzung - und Überwachung

Der Zustrom von Menschen führt dazu, das sich die Wohlhabenderen abschotten, aus Angst vor Kriminalität und weil sie nicht ständig mit dem Elend um sie herum konfrontiert sein wollen. Die Stadtsoziologin Martina Löw berichtete von Songdo, einer koreanischen Smart City vor den Toren Seouls, in der alles und alle miteinander vernetzt sind, um den Preis der totalen Überwachung. „Man wollte den Code der Urbanität knacken und eine reproduzierbare Stadt erbauen“, so Löw. Das Modell kann man kaufen, es gibt bereits Interessenten.

Aber wollen wir so leben wie in Songdo? Die Frage nach der lebenswerten Stadt durchzog die meisten von Marie Neumüller versiert moderierten Panels. „Die Stadt erleben wir dort, wo wir im Unvertrauten Vertrautes wahrnehmen können und umgekehrt“, zitierte Angelika Fitz Max Weber und bezog sich damit auf die „unterschiedlichen kulturellen Grammatiken“ einer Stadt. Am nachdrücklichsten treffen sie dort zusammen, wo sie wie das moderne Beirut selbst ein Produkt des Exils sind, aber eben auch ein Möglichkeitsraum für die, die dort Zuflucht finden, wie der in Kanada lebende Libanese Rawi Hage („Kakerlake“) vermutete.

Obwohl die eingereichten Texte dem Publikum kaum vermittelt wurden und Omar Akbar einen meist unvorbereiteten Eindruck machte, drang doch durch, dass sich die Stadtvisionen der Europäer oft melancholisch an Vergangenem abarbeiten oder sich die Zukunft nur als Dystopie vorstellen können, „denn davon lebt ein Schriftsteller“, wie der Ire Roddy Doyle augenzwinkernd anmerkte. Selbst den Rumänen Mircea Cartarescu, der in diesem Jahr für seine Romantrilogie „Orbitor“ mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde, trieb mehr das Bukarest Ceausescus um als Gegenwart und Zukunft der Stadt. Den Megastädten in Asien oder Afrika sind solche Gefühlslagen offenbar fremd. Sollte die menschliche Anpassungsfähigkeit , von der Neumüller sprach, dort tatsächlich ausgeprägter sein als in Europa?

Die Reihe „Zukunftsstadt“ im Literaturhaus Berlin endet heute Freitag, den 18.9., mit einem Gespräch über Bogotá (Laura Restrepo, 17 Uhr) und einem Panel zu den „Visions 2030“ (Restrepo, Boualem Sansal, Philipp Misselwitz und Hildegard Matthies, 18 Uhr).

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