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Deutsches Ferienidyll: Eines der Familienfotos, von denen Jacek Dehnel sich inspirieren ließ.

© Privat

Internationales Literaturfestival Berlin: Hundert Fotos suchen eine Heimat

Der Polnische Autor Jacek Dehnel gibt alten Familienfotografien eine neue Geschichte. Zu sehen ist das Projekt im Rahmen des Internationalen Literaturfestivals Berlin.

Morgen ist es wieder so weit: Das Internationale Literaturfestival Berlin schüttet zum 16. Mal seine Wundertüte aus. Elf Tage lang, bis zum 17. September, kann man im Haus der Berliner Festspiele und mehreren Nebenspielorten die ganze Vielfalt der zeitgenössischen Literatur entdecken. Zum Auftakt um 18 Uhr spricht diesmal der argentinische Schriftsteller César Aira. Gleich im Anschluss, um 20 Uhr, findet mit einer Rede von Olaf Kühl bei freiem Eintritt die Vernissage zu einem Ausstellungsprojekt statt, das wir auf dieser Seite in Ausschnitten dokumentieren.

Konzipiert haben es der Festivalfotograf Ali Ghandtschi und sein Kompagnon Mark Giannori. „Der Koffer – Walizka“ ist eine deutsch-polnische Gemeinschaftsarbeit. In einem Berliner Schuttcontainer fanden Ghandtschi und Giannori einen alten Koffer voller Fotografien, auf denen Augenblicke aus dem Leben einer deutschen Familie festgehalten waren, die aus einem Gebiet östlich der Oder zu stammen schien. Die Frage, was Deutsche und Polen verbindet, stellte sich wie von selbst. In Warschau einen vergleichbaren privaten Fotonachlass zu erwerben misslang – die Deutschen hatten die Stadt so gründlich in Schutt und Asche gelegt, dass offenbar auch keine Fotografien übrig geblieben waren. Auch über das Schicksal der Familie etwas in Erfahrung zu bringen, misslang. Doch genau das brachte die beiden auf die Idee, polnische Autoren zu bitten, sich die Familienbilder anzusehen, als wären es die eigenen. Hundert Aufnahmen suchten sie aus, unter denen die Autoren eine beliebige Anzahl auswählen und ihnen eine neue Geschichte geben sollten.

Wechselseitige Erhellung von Bild und Text

Unter den 13 Schriftstellern, die sich bisher an diesem work in progress beteiligt haben, ist auch der 1980 in Danzig geborene Jacek Dehnel, der seit seinem Studium der Philosophie und Literatur als Lyriker, Prosaist, Maler und Übersetzer aus dem Englischen in Warschau lebt. Zwei seiner Romane, „Lala“ und „Saturn“ sind in der Übersetzung von Renate Schmidgall auch auf Deutsch erschienen. Die wechselseitige Erhellung von Bild und Text ist Dehnel, der auch ein begieriger Sammler alter Fotografien ist, schon aus seinem eigenen Buch „Fotoplastikon“ (2009) vertraut. Für das Koffer-Projekt hat er ein sechsteiliges „Rondeau“ verfasst, von dem wir hier vier Abschnitte übersetzt von Lisa Palmes wiedergeben. Am 10. September um 16.30 tritt Dehnel im Rahmen einer Diskussion mit Karolina Puchala-Rojek von der Warschauer Stiftung Archeology of Photography und Stanislaw Strasburger auf.

In fünf Hauptabteilungen präsentiert das Festival rund 200 Autoren und Autorinnen. Neben dem gewohnt umfangreichen Programm zur Internationalen Kinder- und Jugendliteratur gibt es wieder die „Literaturen der Welt“, die politisch ausgerichtete Reihe „Reflections“, die Hommagen von „Erinnerung, sprich“, diesmal unter anderem mit einem Abend zum 100. Geburtstag von Peter Weiss. Besonderes Gewicht bekommt die Reihe „Science and the Humanities“ durch ein zweitägiges Symposion zum Thema „Ungleichheit im 21. Jahrhundert“ (12./13.9.), an dem kritische Ökonomen wie David Graeber und Michael Hudson beteiligt sind.

Zu den Gästen des ilb zählen Han Kang und Liao Yiwu

Unter den literarischen Gästen ist der Ire Colm Tóibín, der noch am Eröffnungsabend seinen Roman „Nora Webster“ vorstellt. Der Israeli Nir Baram liest aus „Weltschatten“, der Franzose Mathias Énard spricht über „Kompass“ und die Begegnung von Orient und Okzident. Die mit dem International Man Booker Prize ausgezeichnete Südkoreanerin Han Kang reist zur Buchpremiere ihres Romans „Die Vegetarierin“ an. Der in Berlin lebende chinesische Friedenspreisträger Liao Yiwu präsentiert seinen Romandebüt „Die Wiedergeburt der Ameisen“, nicht ohne auf Autobiografisches zurückzugreifen.

Mit Elena Ferrante ist übrigens auch eine geheimnisvolle, unter Pseudonym schreibende Schriftstellerin angekündigt, die allerdings nur aus dem Munde der Schauspielerin Eva Mattes sprechen wird. Aus Südafrika kommt Ivan Vladislavic, aus Kenia Binyavanga Wainaina, und in mehreren Poetry Nights kommt auch die Lyrik nicht zu kurz. Unter anderem treten auf der Mazedonier Nikola Madzirov, der Inder Arvind Krishna Mehrotra. Zum Abschluss liest mit Adonis der bedeutendste Dichter der arabischen Welt. Tsp

Mehr unter www.literaturfestival.com

I VERSPRECHEN

Tulpen, also Frühling. Frühmorgens geschnitten – denn so schneidet man Tulpen, bevor die Sonne sie erwärmt, eine unerwartet grelle Frühlingssonne – vor zwei, vielleicht drei Tagen, denn sie sind bereits im Wasser gewachsen, in die Länge geschossen, haben ihre großen, aufgeblühten Kelche fantasievoll knapp über der Tischplatte drapiert.

Dieses Haus ist begütert, übervoll (wie die Glaskugel an erleuchtetem Wasser) an Gediegenheit, Reichtum, angemessen gewichtigen Gegenständen. Geld bringt Geld hervor: Es gestattet, in die hohen Wände hohe Fenster zu brechen, durch die sich das flüssige Gold der Spätmärz- oder Aprilsonne ergießt. Es steht schon eine Vase voller Blumen da? Das macht nichts. Holt noch eine zweite, dritte, ruhig auch eine vierte, stellt sie auf, sollen sie das Leuchten in sich aufnehmen.

Ordentliche Möbel, und in ihren Fächern Reihen von ledergebundenen Büchern mit geprägten Rücken; ein Sessel, in dem man Platz nehmen, ein Tisch, auf dem man seine Pfeife oder Brille ablegen kann, auch wenn er mit seinen massiven, einwärts gerollten Beinen sogar einen Elefanten getragen hätte.

Vom Parkettboden mit dem weichen Teppich bis hin zur Zimmerdecke ist hier alles – wie in einem gewissen Lübecker Salon mit leuchtendblauer Tapete, welche olympische Götter zieren – das Versprechen eines geraden, leichtfüßig beschrittenen Weges, eines leichten Lebens bis hin zur neugotischen Familienkapelle. Ausgestattet mit jedweden Annehmlichkeiten.

II PROPHEZEIUNGEN

Sommers, wenn es warm ist, geht man auf die Terrasse. Die Terrasse hat alte Bretter, sie sind ganz silbern. Vom Regen. Und heiß von der Sonne, sodass sie wärmen. Am meisten die Knie, denn die Knie sind entblößt, die Schienbeine weniger, weil nur durch die Kniestrümpfe. Doch auch sogar die Füße, durch die Schuhsohle.

Kriegspielen ist etwas, das man nur im Sommer tut, das heißt, im Winter geht es auch, auf dem Fußboden, aber das macht keinen solchen Spaß.

Kriegspielen ist etwas, bei dem in der Mitte Schatten ist, und auf einer Seite sind die einen Soldaten, auf der anderen Seite sind die anderen Soldaten. Sie schießen aufeinander. Wenn einer trifft, kommt der andere Soldat zurück in die Schachtel, er ist gestorben und nicht mehr am Leben, bis zur nächsten Schlacht.

Die Schatten sind lang, denn die Sonne hängt schon tief, gleich ertönt der Gong zum Abendessen, und dann wird man gehen müssen, deswegen kommen jetzt alle Soldaten zurück in die Schachtel, weil am Ende alle Soldaten sterben und nicht mehr am Leben sind, und so bleibt es dann. Hörst du, wie sie rappeln, hörst du es?

IV VERHARREN

Auf einmal zeigt sich, dass es ganze Jahrzehnte sind. Es kommt dir vor, als seist du nur flüchtig darin eingetaucht, wie das Blatt eines Paddels ins Wasser, dabei warst du die ganze Zeit über dort, an jedem Datum, hast dir keinen Tag, keine Nacht freigenommen, verkatert nach der Silvesterfeier bei Armin in Essen, nach der Operation, am Tropf, wenn auch nicht geistig, so warst du doch zumindest körperlich immer darin.

Sie kehren als Enttäuschung zurück. Papphütchen und spanischer Sombrero, angeklebter Schnurrbart, ein absurder Schnurr- und Backenbart aus schwarzem Karton: Als was hast du dich nicht alles verkleidet und bist trotzdem du selbst geblieben? Tapeten, Schüsseln, ein „Cinzano“-Leuchtschild, in Papier gehüllte Strohhalme für Drinks, die jemand in beschwipstem Zustand mit Salzstangen verwechselte. Was haben wir darüber gelacht.

So viele Leute, so viele Leute! Sie ziehen vorbei wie auf einem vorgespulten Film. Manche kehren in weiteren Szenen wieder, andere wirkten erst wie Hauptdarsteller, entpuppten sich dann aber als Statisten. Köpfe von oben, Profile im Schatten. Mienen, an denen sich weder damals etwas ablesen ließ noch heute etwas ablesen lässt.

Tanzkarten, Abendprogramme, spezielle Menüs. Zahnarzttermine, Karte schreiben an Tante Anneliese. Verwunderung, dass so das Leben ist.

VI RÜCKKEHR

Also du bist es, Kugel, du ideale Form? Du warst es die ganze Zeit, festgehalten dort auf der gläsernen Fotoplatte, der längst vergessenen, angeschlagenen, mit Erde halb bedeckten. Und hier, auf dem dünnen Papier. Und mit dir das Licht jenes Tages – heute erinnert sich niemand mehr, ob es später März war oder vielleicht April, in jedem Fall die Tulpenzeit in fernen, vergessenen Tagen, als Blumen und Früchte ihre durch den natürlichen Jahreslauf festgelegten Zeiten hatten. All die Jahre hindurch erschienst du, gabst vor, jedwedes Rund zu sein: der Vollmond bei Abenden im Park, bei Reisen, in der sinkenden Sonnenkugel, während auf Deck jemand in lustiger Gesellschaft einen Refrain anstimmte und ein anderer Luftschlangen aus einer Dauerwelle klaubte. Im Kopf einer Puppe, der aus einer Reisetasche ragte, diesem beschämenden Beweis. Beweis wofür? Daran erinnert sich heute niemand mehr, nur die Scham ist noch in Erinnerung. Du erschienst in den Bäuchen, die kaum unter dem Tisch Platz fanden und bekleckert waren von Gulaschsauce, in den flachen Kreisen der Brüste, in den vollen Wangen der Kellnerin. Man musste alles vergessen, um sich an dich zu erinnern, man musste alles verlieren, damit du zurückkamst. Tulpen, also Frühling. Frühmorgens geschnitten – denn so schneidet man Tulpen, bevor die Sonne sie erwärmt, eine unerwartet grelle Frühlingssonne – vor zwei, vielleicht drei Tagen, denn sie sind bereits im Wasser gewachsen, in die Länge geschossen, haben ihre großen ...

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