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Bühne beim Internationalen Literaturfestival Berlin.

© Hartwig Klappert

Internationales Literaturfestival Berlin: Die Wahrheit erfundener Geschichten

Das Internationale Literaturfestival präsentiert im Haus der Berliner Festspiele elf Tage lang 200 Autoren und Autorinnen aus 50 Ländern.

Von Gregor Dotzauer

Beginnen wir mit dem Anfang, könnte man den spanischen Schriftsteller Javier Marías zitieren, der so seine Eröffnungsrede zum 15. Internationalen Literaturfestival Berlin (ilb) überschrieben hat. Vom heutigen Mittwoch an präsentiert es elf Tage lang rund 200 Autoren und Autorinnen aus gut 50 Ländern – an seinem Hauptspielort im Haus der Berliner Festspiele und auf vielen anderen Bühnen der Stadt. Nur was ist der Anfang? Liegt er in der Welt, wie sie ist, aus der die Literatur dann etwas herstellt, das einen zum Nachdenken bringt, wie sie sein könnte? Zählt die Wahrheit erfundener Geschichten weniger als die Wahrheit der Fakten? Das heikle Terrain, auf das sich Marías begeben wird, umreißt Grundprobleme jeder Kunst, die sich ihren mimetischen Aufgaben stellt. Es ist, so politisch sich das ilb seit seinen Anfängen versteht, aber auch das Parkett, auf dem sich die Gäste Jahr für Jahr aufs Neue bewegen.

Wie zum Beispiel hat das Gedicht der wunderbaren, hierzulande sträflich unbekannten britischen Dichterin Ruth Padel begonnen, das wir im Anschluss vorstellen? In Gesprächen mit dem griechischen Freund, dem es gewidmet ist? In einem Besuch auf Ellis Island? Mit den Gegenständen, die von weiten Handelswegen, aber auch von Auswanderung erzählen? Oder gar mit der traumhaft imaginierten Todesszene am Ende? In der Poetry Night, die sie am 10. September zusammen mit dem Griechen Haris Vlavianos und Luis Chaves aus Costa Rica bestreitet, wird die studierte Altphilologin vielleicht darüber Auskunft geben. In ihren Werken beschäftigt sie sich mit allen Arten von Migration: der Zellmigration bei Tieren ebenso wie der Flucht von Menschen über die sieben Weltmeere – oder damit, wie die Naturwissenschaften ins Gedicht einwandern.

Zahlreiche große Namen beim ilb

Das ilb präsentiert auch wieder zahlreiche große Namen. Noch am heutigen Eröffnungsabend spricht der diesjährige Friedenspreisträger Navid Kermani über sein Verständnis des Christentums. Am 14. September begibt sich Kazuo Ishiguro mit seinem Roman „Der begrabene Riese“ ins englische Mittelalter. Tags darauf feiert Martin Amis die deutsche Buchpremiere seines sarkastischen Auschwitz-Romans „Interessengebiet“, und der nigerianische Nobelpreisträger Wole Soyinka spricht über den Terror von Boko Haram. Zum Abschluss am 19.9. erkundet die israelische Bestsellerautorin Zeruya Shalev den „Schmerz“, der aus der Liebe kommt.

Zwölf Autoren entwerfen ihre Zukunftsstadt

Neben einem eindrucksvollen Programm mit Kinder- und Jugendbuchliteratur gibt es darüber hinaus eine umfangreiche Sonderreihe im Rahmen des aktuellen Wissenschaftsjahres Zukunftsstadt. Zwölf Autoren wurden eingeladen, ihre Vision von städtischem Leben im Jahr 2030 zu entwerfen. Zum Auftakt am 10.9. diskutiert der aus Kalkutta stammende Suketu Mehta, der vor einigen Jahren den Reportageband „Bombay: Maximum City“ veröffentlichte, mit der Architektin Sonja Beeck und der Stadtplanerin Jutta Deffner. Er mahnt zur Vorsicht: „Aus euren Träumen könnten unsere Albträume werden. Wir anderen müssen uns darin bewegen, darin schlafen, darin leben.“

Mehr unter www.literaturfestival.com. Der Festivalkatalog mit dem Leitthema „Refugees“ kostet 19,80 €.

Ruth Padels Gedicht "Die Musik der Heimat"

Die Musik der Heimat

Von Ruth Padel

Für Nikos Daskalakis

Als ich auf Ellis Island ankomme, beobachte ich, wie sich die gläsernen Alpen

von Manhattan über einstöckige Bauten emporschwingen,

die schrecklich ausgesehen haben müssen, als sie die einzigen waren,

als du 1854 von jenseits des Regenbogens aus Europa kamst …

Ja, sich aufschwingen und abheben vom Smaragdgrün des Battery Parks

wie umherstreifende Königslibellen, die ihre lange Wanderschaft

über den Indischen Ozean beginnen. Als ich auf Ellis Island ankomme

(mit Abraum hochgezogen, der aus dem Innern der New Yorker U-Bahn kam,

auf einem Hügel, der früher Fischern und Möwen vorbehalten war),

steuere ich auf Schätze zu, Vermächtnisse von Familien,

deren Ur-Ur-Großeltern jene über ganze dreitausend Meilen

schafften. „Sie nahm alles, was sie schleppen konnte“,

riefen Väter ihren Kindern in tausend Sprachen ins Gedächtnis.

Wie wär’s, wenn wir eines Tags dorthin gingen, Niko? Du würdest dich

aus deiner Wohnung in Heraklion erheben, wo deine Tochter in der

Musikhochschule ist und wo ich sie, bevor du so krank warst, singen hörte,

unter den alten Mauern, die früher, wie ich mich entsinne, eine Bar beherbergten,

die aus sarazenischen Steinen gehöhlt war,

wo wir hausgemachten Raki soffen und auf Sägemehl tanzten,

während ein Greis den Erokritos sang

und auf seinen Knien mit Löffeln Musik machte. Der Graben ist jetzt aufgefüllt,

gepflastert und für Familienfreizeit zurechtgemacht.

Ja, als wir auf Ellis Island ankamen, du und ich,

begannen wir mit einer finnischen Kupferkaffeekanne,

einer Bahn gestickter chinesischer Seide, einem Formholz

für Reiskekse (japanisch), einem türkischen Handtuch aus Palästina,

einem Messingnudelschneider aus Österreich-Ungarn, der zwei

miteinander verbundenen, regenfarbenen Spornen glich, und einer geschnitzten

Kokosnuss aus Guayana. Aber dann stießen wir auf die armenische Oud und die ungarische Zither, auf den Pferdehaarbogen aus Korea,

das irische Tamburin und schließlich auf die kretische Lyra,

aus einem Stück Holz geschnitzt, komplett mit ihrem Bogen

mit Falkenglöckchen, wie die Lyra, die Thanassis Skordalos bei seiner

ersten Plattenaufnahme 1946 zusammen mit Giannis Markogiannakis

auf der Laute spielte. Und wir erinnerten einander daran,

wie wir den ganzen Tag in der sengenden Sonne arbeiteten

und dann die ganze Nacht lang tanzten. Wie der siebzigjährige Kostas

uns die Schritte des Pentozali zeigte, wir aber nie mit dem Zucken seiner

schmucken schwarzen Schuhe Schritt halten konnten.

Und wir lachten dann, dieses Tanzen und Singen zur Lyra

hatte mehr Bedeutung im Dunkeln, auf Ariadnes Gestade,

als sonstwo auf Erden. Als ich heute allein

auf Ellis Island ankomme, denke ich an die Jahre, als du die Schiffe

bedientest. Deine Briefe kamen selten, weil deine Hand,

wie du später sagtest, nie ruhig war. Ein Schiff ließ dich

ein Jahr vor Ägypten vor Anker liegen, ein nationaler Skandal,

der vertuscht wurde, zweihundert griechische Zementschiffe,

lahmgelegt in einem riesigen Hafen –

niemand musste dafür aufkommen, man war da in eine Kampfzone

für hinterfotzige Versicherungsgesellschaften

geraten, seinen Lohn bekam man nie und musste

seine Unterhosen versetzen, um wieder in die Heimat zu kommen –

aber in einer samtenen Nacht hörtest du kretische Musik

von jenseits des Wassers, und am nächsten Tag tauchtest du

in diesen Sumpf aus Abwässern, Haien und Müll, der von

tausend Schiffen geworfen wurde, tauchtest wie in eine

Avenue aus grüner Seide, um den einen Mann

in diesem Tollhaus zu finden, der die Musik der Heimat spielte.

Aus dem Englischen von Rainer G. Schmidt

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