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Internationales Literaturfestival: O'Driscoll über den Horror der Gewöhnlichkeit

Blues der Mittelklasse: Der irische Dichter Dennis O’Driscoll liest bei der Poetry Night im Deutschen Theater.

Es gab einen Tag in Dennis O’Driscolls Kindheit, an dem ihm klar wurde, dass er es nie schaffen würde, alle Bücher dieser Welt zu lesen. Nicht einmal die guten. Jeden Tag, so sagt er heute, las er eins, erhöhte die Dosis auf zwei, drei – bis er die Aussichtslosigkeit seines Vorhabens erkannte. Seine grenzenlose Neugier mag aber schuld daran gewesen sein, dass aus ihm ein Dichter wurde, heute einer der wichtigsten Irlands.

1954 in Thurles, County Tipperary, geboren, hat er mittlerweile acht Lyrikbände, eine Sammlung mit Essays und Rezensionen sowie „Interviews mit Seamus Heaney“ vorgelegt, dem Literaturnobelpreisträger von 1995. Außerdem ist er Herausgeber des „Bloodaxe Book of Poetry Quotations“, einer launigen Sammlung von nach Themen geordneten Zitaten aus den Schriften namhafter Dichter und Essayisten.

Die Poesie hat O’Driscoll, der viele Jahre als Beamter sein Brot verdiente und den Büroalltag gut kennt, nicht dazu gebracht, das Alltagsleben gering zu schätzen. Im Gegenteil, es spiegelt sich häufig in seinen Gedichten wider, ob es um die Krankheit eines Freundes, die Vergänglichkeit des Glücks oder die bescheidenen Freuden nach Dienstschluss geht: „Nach Dienstschluss, / wenn alles gesagt und getan ist: / jemanden anrufen, ihm sagen, er soll / den Heißwasserspeicher auf BADEN stellen / und die Pizza aus dem Tiefkühlschrank nehmen.“ In „Mittelklasse-Blues“ thematisiert er die Angst des Arbeitnehmers, der scheinbar „alles hat“ (Frau, Wohnung, Job) vor dem Worst Case: dem Verlust des Arbeitsplatzes oder einer schlimmen Krankheit: „Er hatte alles. / Eine schöne junge Frau. / Ein behagliches Zuhause. / Einen sicheren Job. / Dann eines Tages.“

O’Driscoll baut sich keine geschlossene Welt aus Metaphern, sondern bewegt sich in seiner Poesie nah am natürlichen Sprechen. In „Nachtwache“ scheint es so, als müsse ein von der Arbeit geplagtes, schlafloses Ich sich selbst ermuntern und aus der Not eine Tugend machen. „Das Leben ist zu kurz, um durchzuschlafen“, beginnt es und endet mit der hoffnungsvoll-ironischen Erkenntnis: „Du bist der Einzige, der dein Leben nicht verschwendet hat.“

O’Driscolls Thema ist oft der Horror der Gewöhnlichkeit: eine fehlgeschlagene Verabredung, die Schwierigkeiten des Miteinander-Sprechens, das Zermürbende erstarrter Rituale: „Nein, obwohl es seltsam scheinen mag, deine Traumküche / hat nicht den geringsten Zauber für mich. / Nein, es gibt nichts, was ich weniger möchte, als / bei deinem Produkteinführungsempfang zusammenzuglucken.“

Für Dennis O’Driscoll sind Gedichte „eine Art Zeitkapsel“. Alles kann bedeutsam sein: ein verregneter Augusttag, der abwesende Gott oder eine Uhr. „Die Großvateruhr bewahrt / die Zeit hinter Schloss und Riegel / zählt die Sekunden wie ein Geizhals / im Inneren eines Walnussgewölbes.“

Am heutigen Freitag liest Dennis O’Driscoll gemeinsam mit Kevin Hart (Australien), Nikola Madzirov (Mazedonien) und Serhij Zhadan (Ukraine) bei der Poetry Night II, im Deutschen Theater, 20.30 Uhr.

Volker Sielaff

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