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Internet: Auf einen Blick

Alle reden vom Überwachungsstaat, keiner wehrt sich. Weil der gläserne Mensch im Internet Realität ist? In anderen Ländern sind Proteste selbstverständlich: In China klagte ein Paar, weil ihr gefilmter Kuss im Netz auftauchte.

Ist Deutschland noch zu retten? Treibt uns die Angst vor Terroristen in den „Überwachungsstaat“, wie nicht nur die üblichen Verdächtigen wie Günter Grass warnen? Im aktuellen Jahresbericht der Datenschutzorganisation „Privacy International“ wird Deutschland beim Schutz der Privatsphäre um zwei Punkte zurückgestuft. Vor dem Verfassungsgericht klagt die Schriftstellerin Juli Zeh gegen den biometrischen Pass. Und in der „FAZ“ erklärt Michael Hanfeld, die neue Sicherheitsarchitektur erinnere ihn „an die Rasterfahndung: Unter den Vorzeichen des islamistischen Terrors kehrt der deutsche Herbst zurück. Und dieses Mal ist es keine bleierne Jahreszeit, sondern ein Klimawandel.“

Gemeinsam ist diesen Alarmismen zweierlei: zum einen die legitime Furcht vor einem Missbrauch staatlicher Überwachungskonzepte, zum anderen aber auch ein antistaatlicher Affekt, der in Deutschland nicht nur im linken Milieu jederzeit abrufbar scheint. Vieles erinnert an die kollektive Hysterie, mit der sich 1983 Teile der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit gegen die geplante Volkszählung auflehnten: Wieder ergeht an den Staat der Vorwurf der Angstschürerei, wieder wird mit dem Schüren von Überwachungsängsten gekontert, und wieder konstruieren die ganz Forschen eine vermeintliche Traditionslinie staatlichen Überwachungswahns, die von der Gestapo über die Rasterfahndung (West) und die Stasi (Ost) direkt zu Wolfgang Schäuble führen soll.

Wie hartnäckig solche Kassandra-Rufe mitunter an der bundesrepublikanischen Realität vorbeiargumentieren, zeigt ein aktuelles Buch des Soziologen Wolfgang Sofsky: Seine „Verteidigung des Privaten“ (C. H. Beck) entwirft das Zerrbild eines nach allumfassender Kontrolle strebenden Staates, aus dessen Klauen es das Private zu retten gilt. Videokameras, die Autobahnmaut, Eingriffe ins Bankgeheimnis, Chipkarten, die „Gedankenpolitik“ des Bildungswesens, all das vermengt Sofsky zum Herrschaftsinstrumentarium eines Staatswesens, wie es absolutistischer auch Thomas Hobbes nicht hätte entwerfen können. Als Gegenentwurf zu diesem zügellosen Leviathan propagiert Sofsky ein radikalliberales Eigenbrötlertum, das jede soziale Verantwortung, ja überhaupt jeden Gemeinschaftsgedanken von sich weist: Selbst Steuern gelten ihm als Zumutung, die einzig der Einbettung des Bürgers in überwachbare Arbeitszusammenhänge dienen – wo man sich mit seinem Privateigentum doch gerade „die Gesellschaft ein Stück weit vom Leibe halten“ will. Nicht nur hier lässt Sofsky sein antistaatliches Ressentiment ins entschieden Antisoziale abgleiten: Seine Privatsphäre sieht er nicht zuletzt von „nichtigen Gesprächen“ sowie „Gerüchen und Ausscheidungen fremder Körper“ bedroht.

Sicher, die Auseinandersetzung mit dem Überwachungsstaat wird auch konzilianter geführt. Dennoch ist Sofskys schrilles Traktat charakteristisch: Weil es vorführt, dass überzogene Überwachungsängste nicht von links kommen müssen, sondern sich ebenso gut aus reaktionärem Abschottungswillen speisen können, aus dem Seine-Ruhe-haben-Wollen und Betreten-Verboten-Geist einer deutschen Schrebergartenmentalität, für die die Menschengemeinschaft an den Grenzen der eigenen Scholle endet. Bezeichnend, dass Sofsky ausgerechnet „die Mauer“ zu den „wichtigsten Erfindungen der Menschheit“ rechnet.

Der Privatier als Maurermeister: Nun ist dies eine Geisteshaltung, die sich in Deutschland offenbar ebenso auf dem Rückzug befindet wie die linken Windmühlenkämpfe gegen den vermeintlichen Leviathan – denn so grell die Warnrufe beider Seiten auch daherkommen, so weitgehend resonanzlos bleiben sie in der Öffentlichkeit. Ein breites gesellschaftliches Aufbegehren gegen Deutschlands neue Sicherheitsarchitektur findet schlicht nicht statt – anders als 1983. Woran liegt’s?

Verlockend, hier die gesellschaftliche Selbsterkenntnis zu wittern, dass das Wettern gegen den Überwachungsstaat hierzulande oft etwas Schizophrenes hat. Denn während Otto Normalempfinder die forschen Anti-Terror-Konzepte eines Wolfgang Schäuble empört zurückweist, spendet er gleichzeitig Beifall, wenn der Verfassungsschutz die NPD unterwandert, Pädophile bespitzelt, Scientologen überwacht und Steuersünder auffliegen lässt. Ebenso lautstark geißelt er das „Wegsehen“ von Nachbarn und Behörden, sobald irgendwo verwahrloste Kinder entdeckt werden.

Eine Rolle spielen dürfte zudem die generationenbedingte Wahrnehmungsverschiebung: Mag es den Westdeutschen bis in die achtziger Jahre tatsächlich noch fraglich erschienen sein, ob ihr Staat nicht doch wieder den totalitären Rückwärtsgang einlegen könnte, so kommt diese Furcht heute abstrakter daher.

Der wichtigere Grund für das Ausbleiben nennenswerter Proteste dürfte jedoch ein allgemeinerer Paradigmenwechsel sein, der unser Verständnis von öffentlich und privat betrifft. Während man sich innerlich noch gegen das staatliche Projekt eines „gläsernen Menschen“ wehrt, genießt man längst vollverglast die kommerziellen Lockungen des virtuellen Zeitalters. Und es sind keineswegs nur die Jüngeren, die die Veröffentlichung des Privatesten im Internet mit großem Lustgewinn betreiben: Webforen wie Facebook, MySpace oder StudiVZ euphorisieren einen stetig wachsenden Nutzerkreis, den offenbar gerade die Sprengung von Anonymität, das virtuelle Einreißen der eigenen Schrebergartengrenzen reizt.

Und warum auch nicht? Das gesetzlich verbürgte Recht auf informationelle Selbstbestimmtheit macht schließlich auch den Verzicht auf Privatsphäre legitim. In Kauf genommen wird dabei sogar, dass kommerzielle Anbieter im Internet schon jetzt eine umfassendere Kundenbespitzelung betreiben, als es dem überwachungswütigsten Staat möglich wäre. Virtuos münzt das Netz Musiktipps unter Freunden in kommerzielle Hörempfehlungen um, Reiseberichte in Urlaubsangebote, Stildebatten in Modetipps. Wer kennt nicht das amüsierte Schaudern, wenn Amazon den eigenen Lesegeschmack zutreffender einordnet als der Buchhändler von nebenan? Kein Wunder, dass das Internet das Misstrauen all jener auf sich zieht, die auch gegen staatliche Überwachungskonzepte Sturm laufen – Wolfgang Sofsky etwa sieht hier eine „unheilige Allianz der Institutionen“ am Werk, die dafür sorge, „dass sich das Individuum an keinem Ort mehr vor fremden Blicken sicher fühlen kann“.

Nun mag das Missbrauchspotenzial gigantisch sein, und vieles von dem, was im Netz als Versprechen einer schönen neuen Welt verkauft wird, bislang eher nach globalisiertem Schrebergarten riechen („Überprüfe, welcher Nutzer in deiner Abwesenheit dein Profil aufgerufen hat!“). Dennoch ist die nachhaltige Faszination des Mediums kaum von der Hand zu weisen – und letztlich dürfte das gerade an der virtuellen Grenzverwischung zwischen öffentlich und privat liegen, die das Internet kennzeichnet. Eine Anekdote aus China mag diese widersprüchlichen Stoßrichtungen zusammenfassen: Dort hat kürzlich ein junges Pärchen den Betreiber eines Bahnhofs verklagt, nachdem im Netz ein Video Furore gemacht hatte, das einen mehrminütigen Abschiedskuss der beiden dokumentiert – aufgenommen mit einer Überwachungskamera. An dieser Geschichte entzündete sich wiederum in chinesischen Webforen eine Debatte über Eingriffe in die Privatsphäre – geführt von einer chinesischen Gegenöffentlichkeit, die ohne das Internet gar kein Forum hätte.

Sicher, auch das Netz bietet dem Staat potenzielle Angriffsflächen für Bespitzelungsversuche – doch in der Realität muss jeder Kontrollversuch vor den schieren Datenmengen kapitulieren, die in Webforen das Politische mit dem Privaten verknüpfen, die Kritik mit dem Tratsch, das Öffentliche mit dem Kommerziellen. Wer nur auf möglichen Missbrauch fixiert ist, verliert aus dem Blick, dass die globale Vernetzung den Anliegen von Bürgerrechtlern somit mehr nützt als schadet. Das Nachdenken über die neuen Grenzen zwischen öffentlich und privat jedenfalls hat gerade erst begonnen – und wie schwer wir uns damit tun, zeigt der reflexartige Griff nach erprobten Diskursen, wie ihn Wolfgang Sofsky oder Günter Grass vorführen.

Weiter ist da vielleicht der Berliner Schriftsteller Ulrich Peltzer, der sich in seinem aktuellen Roman „Teil der Lösung“ (Ammann Verlag) mit staatlichen Überwachungsmechanismen auseinandersetzt. Er lässt dort einen Verfassungsschützer auftreten, der selbstkritisch das eigene Tun hinterfragt: „Kein plausibler Grund, mit den Methoden von gestern Probleme von heute zu bekämpfen.“ Die Wahrheit dieses Satzes muss in beide Richtungen gelten – für den Staat und seine Kritiker. Kein Grund, mit gestrigen Sicherheitskonzepten Bedrohungen von heute zu begegnen; kein Grund aber auch, die heutige Gesellschaft mit Angstparolen von gestern zu dämonisieren.

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