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Rabbiner Daniel Alter und der palästinensische Psychologe Ahmad Mansour im Gespräch.

© Mike Wolff, TSP

Interview: "Antisemiten werden aggressiver"

Der Rabbiner Daniel Alter wurde im August von antisemitischen Jugendlichen attackiert, der palästinensische Psychologe Ahmad Mansour ist unter anderem Mitglied der Deutschen Islamkonferenz. Im Interview sprechen sie über Alltagsrassismus, Muslime und Helden.

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Herr Alter, Anfang kommender Woche erscheint das Buch des jüdischen New Yorker Autors Tuvia Tenenbom, „Allein unter Deutschen. Eine Entdeckungsreise“. Er ist fassungslos über das Ausmaß des Antisemitismus im heutigen Deutschland. Ist die Situation wirklich so dramatisch?

DANIEL ALTER: Sie ist schlimmer als in meiner Schulzeit in Frankfurt am Main in den Siebzigern. Da war die Großwetterlage merklich besser. Auf dem Gymnasium habe ich keine antisemitischen Töne gehört. Es gab dort mehre jüdische Schüler, aber keine einzige judenfeindliche Aktion, keine Angriffe, auch wenn wir durchaus viel diskutiert und politische Konflikte ausgetragen haben.

Wie sieht es heute aus?
ALTER: Ich denke, dass die Zahlen, die in verschiedenen Studien genannt werden, recht realistisch sind. Zwanzig Prozent der Deutschen gelten demnach als latent antisemitisch. Dazu kommen zehn bis 15 Prozent, die sich offen judenfeindlich äußern. Wir kommen also auf etwa 30 Prozent der Bevölkerung, bei denen antisemitische Ressentiments Teil des Weltbildes sind. Das ist sehr schmerzhaft – und hat erhebliche Folgen: Es gibt ganze Regionen, in denen man sich besser nicht als Jude zu erkennen gibt. Ich selbst trage seit fünf Jahren über der Kippa eine weitere Kopfbedeckung. Das ist sicherer.

Wie macht sich die judenfeindliche Stimmung im Alltag bemerkbar?
ALTER: Man hört häufig Bemerkungen, die wohl gar nicht böse gemeint sind. Da fragt jemand beim Besuch einer nicht-jüdischen Gruppe an einer jüdischen Schule arglos: „Gibt es hier auch normale Schüler?“ Mit solchen absurden Äußerungen ist man täglich konfrontiert. Alle jüdischen Einrichtungen in Deutschland erhalten judenfeindliche Post; das kennen wir schon lange. In den vergangenen Jahren landen immer mehr solcher Schreiben mit dem Namen der Absender im Briefkasten. Sie bleiben nicht mehr anonym, sie trauen sich ans Licht. Die Walser-Debatte hat wie ein Katalysator gewirkt: Antisemiten bekennen sich offen, werden aggressiver.

Herr Mansour, Rabbiner Alter wurde Ende August zusammengeschlagen, weil er als Jude erkennbar war. Die mutmaßlichen Täter waren junge Muslime. Woher kommt dieser Hass?
AHMAD MANSOUR: Statistisch gesehen ist der Antisemitismus in muslimischen Communities drei- bis viermal höher als bei der Mehrheitsgesellschaft. Ideologien und Gerüchte sind weit verbreitet. Und: Beim Hass auf Juden in Deutschland oder Juden in Israel wird kein Unterschied zwischen berechtigter Israelkritik und Antisemitismus gemacht.

Was bedeutet das konkret?
MANSOUR: Ich unterscheide drei Typen des Antisemitismus unter Menschen mit Einwanderungshintergrund. Die einen hängen Verschwörungstheorien an: Danach haben die Juden die Finanzkrise verursacht oder sind für die Anschläge von 9/11 verantwortlich. Bücher über angebliche Untaten des Mossad bestätigen die Anhänger der Verschwörungstheorien. Dann gibt es die arabisch-antizionistische Richtung. Für sie ist der Konflikt im Nahen Osten klar: Juden sind immer Täter, Muslime immer Opfer. Schließlich gibt es diejenigen, die religiös argumentieren und dafür Geschichten aus dem Koran zitieren, um ihre antijüdische Haltung zu begründen.

Aus dem Koran?
MANSOUR: Ein Drittel des Korans beschäftigt sich mit Juden und dem jüdischen Glauben. Doch das wird ohne weiteres Wissen enthistorisiert, von Zeit und Ort gelöst. Radikale muslimische Antisemiten leiten daraus ab, Juden seien „verflucht“ oder hielten keine Verträge ein. Das ist natürlich Unsinn, es zeugt von großer Unkenntnis über die eigene Religion.

ALTER: Ja, es fehlen die Grundlagen. Im Koran haben Juden und Christen den Status der „Dhimmi“, der geduldeten Monotheisten, die mit Muslimen in einem Schutzbündnis stehen. Davon hatten etwa die jungen Leute, die mich physisch attackiert und dabei die jüdische Religion, „meinen“ Gott verbal beleidigt haben, mit Sicherheit keine Ahnung.

Was haben Sie danach erlebt?
ALTER: Mir ist sehr viel Solidarität zuteil geworden, aus der gesamten deutschen Gesellschaft, unter anderem von der Organisation „Heroes“, in der Ahmad Mansour mitarbeitet.

Den „Heroes“ haben Sie, Herr Alter, Ihren Bambi-Preis für Integration gewidmet. Am Sonntag geben Sie ihn an die Organisation weiter. Was haben sich die „Helden“ zur Aufgabe gemacht?
MANSOUR: Wir bilden Multiplikatoren aus, die selbst Migranten sind und leisten Präventionsarbeit. Wir diskutieren mit Jugendlichen über Themen wie „Ehre“, Unterdrückung, Gleichberechtigung oder „Jungfräulichkeit“ in vertrauensvoller Atmosphäre. Während der Ausbildung wird über Rassismus, Vorurteile, Gewalt in der Familie, Israel und den Antisemitismus gesprochen. Innerhalb von fünf Jahren haben wir über 200 Workshops veranstaltet und tausende Jugendlicher erreicht.

"Themen wie Antisemitismus und Rassismus müssen Eingang in die Lehrpläne finden."

Was können die Multiplikatoren bewirken?
MANSOUR: Wir kommen aus der gleichen Gemeinschaft, das ist entscheidend, denn es macht uns glaubwürdig. So erfahren muslimische Jugendliche: Da gibt es einen Palästinenser, aber der hasst die Juden gar nicht. Er ist auch kein frauenfeindlicher Macho.

Wer bezahlt diese Aufklärungsarbeit?
MANSOUR: Wir müssen uns um die Finanzierung immer aufs Neue bemühen. Leider. Aber die Inhalte sind uns das Wichtigste. Zentral ist, dass wir Gewalt ablehnen und Eltern wie Kindern klarmachen, warum Gewalt, die meist in den Familien beginnt, so destruktiv ist. Dass es wichtig ist, einen kritischen Geist zu entwickeln, eigene Argumente. Das stärkste Defizit innerhalb der muslimischen Communities ist ihre Verweigerung von Debatten – man fürchtet den Austausch von Argumenten und wirft einander lieber Schlagworte an den Kopf. Eine Lehrerin sagte neulich zu mir: Meine muslimischen Schüler sind toll, sie können rechnen, haben gute Noten. Aber wenn sie im Aufsatz eigene Gedanken hervorbringen sollen, versagen sie. Genau das müssten Schulen leisten. Hinterfragen ist elementar für die Erhaltung unserer Demokratie.

Welche Rolle spielen die Schulen im Kampf gegen Fremdenfeindlichkeit?
ALTER: Themen wie Antisemitismus, Rassismus, falsche Ehrbegriffe müssen Eingang in die Lehrpläne finden, diese sollten sich am gesellschaftlichen Hintergrund der Schüler orientieren.

Ist die Kultusministerkonferenz gefordert?
MANSOUR: Die Inhalte heutiger Lehrpläne gehen oft an den Erfordernissen der Zielgruppen vorbei. Wenn in einer Klasse 80, 90 Prozent der Schüler einen Einwanderungshintergrund haben und beim Thema Juden und Antisemitismus mit der Schoah konfrontiert werden, reichen die gängigen Mittel nicht mehr aus. Lehrer brauchen den Mut und die Fähigkeit, heiße Eisen anzufassen, zum Beispiel den Nahostkonflikt. Die Pädagogen müssen lernen, wie man auch palästinensische Flüchtlinge für das Thema interessiert. Da hat Schule einen Erziehungsauftrag – ja, einen demokratischen Auftrag.

Womit wir bei der Zivilgesellschaft und ihren Aufgaben wären. Was ist vonnöten?
ALTER: Dass die offenkundige Ignoranz der Mehrheitsgesellschaft gegenüber Minderheiten bekämpft werden muss.

MANSOUR: Ich nenne das interkulturelle Inkompetenz. Sie bietet keine Grundlage für die Zukunft, in der es darum gehen wird, dass man sich in mehreren Kulturen frei bewegen kann, dass man mehr als eine Sprache spricht. Noch sind diejenigen, die das können in der Minderheit, aber sie sind die Mehrheit von morgen.

ALTER: Organisationen wie die „Heroes“ sind wegweisend. Darin scheint Hoffnung auf – für alle, die von Rassisten diskriminiert werden.

Der Berliner Rabbiner Daniel Alter, geboren 1959 in Nürnberg, studierte Jura, Judaistik und Pädagogik und wurde am Potsdamer Abraham-Geiger-Kolleg ausgebildet. Am 28.8. wurde er in Schöneberg auf der Straße von antisemitischen Jugendlichen attackiert.

Der palästinensische Diplompsychologe Ahmad Mansour, geboren 1976, studierte Psychologie, Soziologie und Philosophie in Tel Aviv und an der Berliner Humboldt-Universität. Mansour leitet Gruppen der Organisation „Heroes“, ist Mitglied der Deutschen Islamkonferenz und arbeitet beim Projekt „ASTIU“ mit, das sich mit Islamismus und Ultranationalismus auseinandersetzt.

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